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flo
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christian
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 Joseph Fracchia Joseph Fracchia
  
-HKWM 8/1, 2012, Spalten 362-378+HKWM 8/I, 2012, Spalten 362-378
  
 Zu Beginn des 20. Jh. wurde im Zuge einer ersten ›kW‹ die deutsche [[g:Geisteswissenschaften|Geisteswissenschaft]] in Kulturwissenschaft umgetauft (vgl. Art. »[[k:Kultur]]« in diesem Band). Doch der Ausdruck ›kW‹ wurde erst im Laufe der 1980er Jahre bes. im us-amerikanischen Raum gängig. Seitdem wird er von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachbereichen verwendet, die den Primat der Kultur behaupten. Diese verstehen sie als ein Zeichensystem in Analogie zu einem Text und bedienen sich einer semiologisch geprägten Methodologie, die sämtliche kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragen beantworten soll. Wenn von kW die Rede ist, so häufig in Anführungszeichen oder mit einem ›sogenannt‹ auf Distanz gebracht. So soll jeder Verdacht, die kW liege auf der orthodoxen Linie einer bestimmen ›Schule‹, zurückgewiesen werden. Stattdessen bezeichne kW eine allgemeine Richtung – weg vom elitären Denken der eurozentrischen Hüter der westlichen Hochkultur wie auch von einem grob ökonomistisch (miss)verstandenen [[h:historischer Materialismus|historischen Materialismus]]. Die kW sei ein Gegengift gegen Dogmatismus, Orthodoxie, Fachidiotismus; sie sei experimentell, heterodox, überschreite die strengen Fachgrenzen und sei ›trans‹-, ›multi‹-, ›interdisziplinär‹; sie sei ›nicht-deterministisch‹, sondern überlasse den Menschen ihren Akteursstatus (//agency//) oder Handlungsspielraum; sie sei pluralistisch und untersuche nicht die Kultur, sondern die spezifische und eigenständige Logik der verschiedenen Kulturen in ihrer inkommensurablen Mannigfaltigkeit. Sie sei bescheiden und suche nicht //die// Wahrheit, sondern ›Wahrheiten‹. Zu Beginn des 20. Jh. wurde im Zuge einer ersten ›kW‹ die deutsche [[g:Geisteswissenschaften|Geisteswissenschaft]] in Kulturwissenschaft umgetauft (vgl. Art. »[[k:Kultur]]« in diesem Band). Doch der Ausdruck ›kW‹ wurde erst im Laufe der 1980er Jahre bes. im us-amerikanischen Raum gängig. Seitdem wird er von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachbereichen verwendet, die den Primat der Kultur behaupten. Diese verstehen sie als ein Zeichensystem in Analogie zu einem Text und bedienen sich einer semiologisch geprägten Methodologie, die sämtliche kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragen beantworten soll. Wenn von kW die Rede ist, so häufig in Anführungszeichen oder mit einem ›sogenannt‹ auf Distanz gebracht. So soll jeder Verdacht, die kW liege auf der orthodoxen Linie einer bestimmen ›Schule‹, zurückgewiesen werden. Stattdessen bezeichne kW eine allgemeine Richtung – weg vom elitären Denken der eurozentrischen Hüter der westlichen Hochkultur wie auch von einem grob ökonomistisch (miss)verstandenen [[h:historischer Materialismus|historischen Materialismus]]. Die kW sei ein Gegengift gegen Dogmatismus, Orthodoxie, Fachidiotismus; sie sei experimentell, heterodox, überschreite die strengen Fachgrenzen und sei ›trans‹-, ›multi‹-, ›interdisziplinär‹; sie sei ›nicht-deterministisch‹, sondern überlasse den Menschen ihren Akteursstatus (//agency//) oder Handlungsspielraum; sie sei pluralistisch und untersuche nicht die Kultur, sondern die spezifische und eigenständige Logik der verschiedenen Kulturen in ihrer inkommensurablen Mannigfaltigkeit. Sie sei bescheiden und suche nicht //die// Wahrheit, sondern ›Wahrheiten‹.
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 Die Verbreitung semiotischer Arbeitsweisen hat transdisziplinäre Kontakte, Diskussionen und Projekte angeregt, die seit den 1980er Jahren durch die Gründung von [[k:Kulturstudien (Cultural Studies)|Cultural Studies]] Departments in Nordamerika und Europa institutionalisiert wurden. Weitere Ausläufer entstanden durch Untersuchungen der [[e:Erkenntnistheorie|erkenntnistheoretischen]] Grundlagen der Naturwissenschaften (Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn, Bruno Latour u.a.) aus denen Programme wie »Critical Science Studies« und »Sociology of Scientific Knowledge« hervorgingen, während durch die Begegnung noch links gerichteter ehemaliger Marxisten mit der kW der Postmarxismus mit seiner Verwandlung der Klassen- in eine [[i:Identität|Identitäts]]frage belebt wurde. [[i:Identitätspolitik]] selber mit ihrer Forderung, die Identität und Kultur unterdrückter und ausgebeuteter Gruppen zu respektieren, die gemeinsam mit den Forderungen nach politischer, sozialer und ökonomischer [[g:Gerechtigkeit]] einen Grundpfeiler der Power-Bewegungen (z.B. Black Power) und des [[f:Feminismus]] der 1960er Jahre ausmachten, wurde mit dem Abflauen der radikalen Bewegung allmählich von der kW erfasst, wobei die umfangreicheren »power politics« durch einen grundsätzlich kulturbestimmten Identitätsbegriff ersetzt wurden – eine Einschränkung der Politik auf Identität und der Identität auf Kultur, die sich zu einer [[e:Elfenbeinturm]]politik in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen perfekt eigneten. Der Einfluss der kW auf postkoloniale Studien ist an der Wende der indischen ›Subaltern Studies‹ weg von marxistisch fundierter Gesellschaftskritik in Richtung einer poststrukturalistisch fundierten Kulturkritik ablesbar. Die Auswirkungen der kW auf den Wissenschaftsbetrieb und ihre Beiträge zum Verständnis der systemimmanenten Logik diverser Kulturen sind also erheblich. Wie sie die Beziehungen zwischen Kultur, [[g:Gesellschaft]] und [[g:Geschichte]] auffasst, wirft indes eine Vielzahl von Fragen auf.  Die Verbreitung semiotischer Arbeitsweisen hat transdisziplinäre Kontakte, Diskussionen und Projekte angeregt, die seit den 1980er Jahren durch die Gründung von [[k:Kulturstudien (Cultural Studies)|Cultural Studies]] Departments in Nordamerika und Europa institutionalisiert wurden. Weitere Ausläufer entstanden durch Untersuchungen der [[e:Erkenntnistheorie|erkenntnistheoretischen]] Grundlagen der Naturwissenschaften (Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn, Bruno Latour u.a.) aus denen Programme wie »Critical Science Studies« und »Sociology of Scientific Knowledge« hervorgingen, während durch die Begegnung noch links gerichteter ehemaliger Marxisten mit der kW der Postmarxismus mit seiner Verwandlung der Klassen- in eine [[i:Identität|Identitäts]]frage belebt wurde. [[i:Identitätspolitik]] selber mit ihrer Forderung, die Identität und Kultur unterdrückter und ausgebeuteter Gruppen zu respektieren, die gemeinsam mit den Forderungen nach politischer, sozialer und ökonomischer [[g:Gerechtigkeit]] einen Grundpfeiler der Power-Bewegungen (z.B. Black Power) und des [[f:Feminismus]] der 1960er Jahre ausmachten, wurde mit dem Abflauen der radikalen Bewegung allmählich von der kW erfasst, wobei die umfangreicheren »power politics« durch einen grundsätzlich kulturbestimmten Identitätsbegriff ersetzt wurden – eine Einschränkung der Politik auf Identität und der Identität auf Kultur, die sich zu einer [[e:Elfenbeinturm]]politik in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen perfekt eigneten. Der Einfluss der kW auf postkoloniale Studien ist an der Wende der indischen ›Subaltern Studies‹ weg von marxistisch fundierter Gesellschaftskritik in Richtung einer poststrukturalistisch fundierten Kulturkritik ablesbar. Die Auswirkungen der kW auf den Wissenschaftsbetrieb und ihre Beiträge zum Verständnis der systemimmanenten Logik diverser Kulturen sind also erheblich. Wie sie die Beziehungen zwischen Kultur, [[g:Gesellschaft]] und [[g:Geschichte]] auffasst, wirft indes eine Vielzahl von Fragen auf. 
  
-➫ [[a:Abbild]], [[a:Analytischer Marxismus]], [[b:Basis]], [[b:Bedeutung]], [[d:Diskursanalyse]], [[d:Diskurstheorie]], [[d:Dogmatismus]], [[e:Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse]], [[e:Epistemologie]], [[e:Erkenntnistheorie]], [[f:Fakten]], [[f:Feuerbach-Thesen]], [[f:Fiktion]], [[f:Form]], [[f:Formationenfolge/vorkapitalistische Gesellschaftsformationen]], [[f:Form und Substanz]], [[f:Frage]], [[g:Geistesgeschichte]], [[g:Gesellschaftsformation]], [[g:Grammatik]], [[h:historischer Materialismus]], [[h:homo oeconomicus]], [[i:Idee]], [[i:Identität]], [[i:Indeterminismus]], [[i:Interpretation]], [[k:Klasse an sich/für sich]], [[k:Körper]], [[k:Kultur]], <!--[-->[[k:kultureller Materialismus|kultureller Materialismus]]<!--]-->, <!--[-->[[k:Kulturstudien (Cultural Studies)]]<!--]-->, <!--[-->[[l:Lacanismus|Lacanismus]]<!--]-->, materielle Kultur, mechanischer Materialismus, Neukantianismus, Objektivismus, Orthodoxie, Platonismus, Positivismusstreit, Postkolonialismus, Postmarxismus, Postmoderne, Poststrukturalismus, Semiotik, Sprache, Sprachspiel, Strukturalismus, Subalternität, Symbol, symbolische Ordnung, Text, Verdinglichung, verstehen/erklären, Vulgärmaterialismus, Wahrheit, Wesen des Menschen, Widerspiegelung, Zeichen+➫ [[a:Abbild]], [[a:Analytischer Marxismus]], [[b:Basis]], [[b:Bedeutung]], [[d:Diskursanalyse]], [[d:Diskurstheorie]], [[d:Dogmatismus]], [[e:Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse]], [[e:Epistemologie]], [[e:Erkenntnistheorie]], [[f:Fakten]], [[f:Feuerbach-Thesen]], [[f:Fiktion]], [[f:Form]], [[f:Formationenfolge/vorkapitalistische Gesellschaftsformationen]], [[f:Form und Substanz]], [[f:Frage]], [[g:Geistesgeschichte]], [[g:Gesellschaftsformation]], [[g:Grammatik]], [[h:historischer Materialismus]], [[h:homo oeconomicus]], [[i:Idee]], [[i:Identität]], [[i:Indeterminismus]], [[i:Interpretation]], [[k:Klasse an sich/für sich]], [[k:Körper]], [[k:Kultur]], <!--[-->[[k:kultureller Materialismus|kultureller Materialismus]]<!--]-->, <!--[-->[[k:Kulturstudien (Cultural Studies)]]<!--]-->, <!--[-->[[l:Lacanismus|Lacanismus]]<!--]-->, [[m:Materialismus, mechanischer|Materialismus (mechanischer)]], [[m:materielle Kultur]], Neukantianismus, Objektivismus, Orthodoxie, Platonismus, Positivismusstreit, Postkolonialismus, Postmarxismus, Postmoderne, Poststrukturalismus, Semiotik, Sprache, Sprachspiel, Strukturalismus, Subalternität, Symbol, symbolische Ordnung, Text, Verdinglichung, verstehen/erklären, Vulgärmaterialismus, Wahrheit, Wesen des Menschen, Widerspiegelung, Zeichen
  
  
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k/kulturelle_wende.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/23 23:01 von christian     Nach oben
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