Naturgeschichte
A: tārīḫ aṭ-ṭabīʽa. – E: natural history. – F: histoire naturelle, histoire de la nature. – R: estestvennaja istorija. – S: historia natural. – C: zìrán lìshǐ 自然历史
Juha Koivisto, Lauri Mehtonen
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2174-2190
»Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.« (DI, 3/18) Wenn auch im Manuskript der DI gestrichen, ist hier eine grundlegende Einsicht in das dialektische Verhältnis von Mensch und Natur durch Marx und Engels formuliert. Sie hat seither noch an Aktualität gewonnen: Mit den ökologischen Krisen, in denen sich das Ineinander von Mensch und Natur Bahn bricht, steht die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel. Wie stellt sich der Gebrauch des Begriffs N bei Marx und Engels vor diesem Horizont dar?
Die Auseinandersetzung mit Evolutionstheorie und Darwinismus hat die Marxismen der Zweiten und Dritten Internationale geprägt. Deren je unterschiedliche Bewertung resultierte teils auch aus einander ausschließenden Verwendungsweisen des Ausdrucks N bei Marx selbst, der den Term im Lauf seiner intellektuellen Entwicklung unterschiedlich und in kontextabhängig wechselnder Bedeutung benutzte. Zum einen meint N die Geschichte oder Evolution der Natur, zum anderen wird mit dem Ausdruck – polemisch gegen verschiedene Formen von Idealismus – die Naturbedingtheit und -basis der Gesellschaften und Menschen betont, die stets ein Teil der N sind. In einer dritten Verwendung wird die Gesellschaftsgeschichte als N aufgefasst. Handelt es sich, in Bezug auf den Kapitalismus, hierbei um eine ›Anwendung‹ oder ›Ausweitung‹ der Evolutionstheorie bzw. der darwinschen Ideen auf die Gesellschaftsgeschichte oder umgekehrt um eine Rückprojektion gesellschaftlicher Konkurrenzverhältnisse in die N? Ist der Gebrauch des Ausdrucks N kritisch, insofern die N des Kapitalismus und seine blind wirkenden ›Naturgesetze‹ als praktisch aufhebbar gezeigt werden? Es geht, in Theodor W. Adornos Worten, um die »Abschaffbarkeit jener Gesetze« (ND, 1966, GS 6, 348), insofern sie sich als menschengemacht erweisen.
Marx selbst wehrte sich in einem Briefentwurf gegen seine Kritiker (und viele spätere Anhänger), die – wie z.B. der hier adressierte Nikolai K. Michailowski – seine »historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden« (Marx an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski, Nov. 1877, 19/111). Wenn man diese Umstände und deren Entwicklungen »für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel« dafür finden, dass »Ereignisse von einer schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen historischen Milieu« abspielen, »zu ganz verschiedenen Ergebnissen« führen; »aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein« (112).
Was auf dem Spiel steht, sind der Optionsraum und die Bedingungen der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit. In der Kritischen Psychologie wird die Entwicklung solcher Handlungsfähigkeit und die »›gesellschaftliche Natur‹ des Menschen« (Holzkamp 1984, 31) untersucht: »Man muss […] den gesamten naturgeschichtlichen Prozess rekonstruieren, innerhalb dessen sich diejenigen Potenzen der ›Natur‹ der Lebewesen ergeben haben, die dann beim Übergang zur gesellschaftlich-ökonomischen Stufe eine neue Qualität gewannen. Nur so kann man die inhaltlichen Differenzierungen, verschiedenen Funktionsebenen und -aspekte der individuellen Entwicklungsfähigkeit herausarbeiten.« (34; Herv. getilgt)
Bei den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Ausdrucks N geht es um die Naturbedingtheit bzw. Determiniertheit der menschlichen Geschichte und Handlungsfähigkeit und zugleich um die Entwicklungsfähigkeit des Menschen bzw. die Veränderbarkeit der menschlichen Geschichte durch den Menschen.
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