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Es wird jetzt möglich, den Werdegang einer Erkenntnis zu verfolgen.
Die Neudrucke der ersten Jahrgänge von "Argument" dokumentieren ihn. Die Beteiligten selbst werden beim Wiederlesen Entdeckungen von Vergessenem oder Verdrängtem machen; Historiker der nun schon historisch gewordenen Studentenrevolte finden hier die gewichtigsten Zeugnisse ihrer Vorgeschichte in Deutschland, ihre ersten, vorgreifenden Artikulationen.
 
Aber wichtiger noch als dieser historische Aspekt ist der aktuelle: Welches von den Themen, denen diese Hefte gewidmet sind, können wir als erledigt abhaken?
Und welche von den Positionen, die in diesen Heften zu den einzelnen Themen vertreten worden sind, ist durch die Entwicklung dieser anderthalb Jahrzehnte widerlegt worden?
Atomrüstung, deutschpolnisches Verhältnis, Algerienkrieg, Berlinfrage, Portugal man lege etwa den entsprechenden Jahrgang der FAZ daneben und vergleiche: Wer war hier weitsichtiger?
 
Wer zugleich Anwalt der Freiheit, der Demokratie, der Humanität?
Wo klaffen Anspruch (auf den dahinter befindlichen klugen Kopf wie auf freiheitliche Demokratie) und Inhalt mehr auseinander?
Wo bestätigt die inzwischen abgelaufene Entwicklung mehr den Anspruch auf realistische Sicht der Dinge?
 
Dabei kommt freilich heraus, was eher "realistisch" zu nennen ist: die Borniertheit des augenblicklichen Interesses und seiner Verteidigung oder das Interesse an der Gewinnung der Zukunft, das Gespür für deren Forderungen und Gefährdungen, die Entschlossenheit, diese Zukunft nicht durch jene Borniertheit sich zerstören zu lassen.
 
Darum waren es nicht zufällig vornehmlich junge Leute, die diese Zeitschrift begannen und trugen und sich um sie sammelten. Sie sahen sich genötigt, ihr eigenstes Interesse, ihre Zukunft, zu verteidigen gegen diejenigen, die im Kleben am Gegenwartsinteresse die Zukunft ständig ignorierten und aufs Spiel setzten. Dabei wurde wieder einmal eine alte Erfahrung gemacht: In der Doppelverwendung des Prädikats "realistisch", im Streit um das, was wahrhaft "realistische Politik" genannt zu werden verdient, stellt sich heraus, daß die Fixierung auf das gegenwärtige Interesse, auf die Verteidigung der Privilegien des status quo koindiziert mit der Amoralität in der Politik, die dann mit dem Prädikat "realistisch" beschönigt und entschuldigt wird, und daß das Interesse an der Zukunft, die langfristige Vorausschau, koindiziert mit der moralischen Forderung an die Politik, mit der Forderung einer Politik für die gegenwärtig Leidenden, Unterdrückten und Geopferten, für die immer noch ausstehende durchgreifende Humanisierung der Gesellschaft.
 
Wer beim Wiederlesen entdeckt, in welch großem Maße damals moralisch argumentiert, entlarvt und gescholten wird, der täte sehr Unrecht, sich dessen zu schämen und dies zu kritisieren als eine überholte Phase.
 
Die moralische Empörung und die moralische Forderung, die am Anfang standen, sind nichts überholbares.
 
Sie müssen durchgehalten werden; sie sind nicht zu verlierende Kriterien der Politik, auch das selbstkritische Korrektiv gegen Entartungsmöglichkeiten im Sozialismus, gegen das Entschwinden des humanen Motivs und des humanen Zieles in den Tagesnotwendigkeiten und Tagesverführungen des sozialistischen Aufbaus.
 
Was damals ungenügend war, war nicht die Moralität, sondern ihre Beschränktheit, das Fehlen weiterer Erkenntnisse, die erst noch gewonnen werden mußten und die gerade aufgrund ernstgenommener Moralität gewonnen wurden. Zur moralischen Forderung mußte die Analyse treten, die Analyse derjenigen Interessen, die hinter der Verteidigung des gesellschaftlichen status quo stehen, die Analyse der Gründe für die Kurzsichtigkeit dieser Verteidiger und der ideologischen Verbrämungen, durch die der status quo als verteidigungswert erscheint und deren Eigenmacht in den Köpfen den verteidigten Interessen solche weite Bundesgenossenschaft bei den Massen sichert.
 
Für gesellschaftskritische Analyse bot der Betrieb an den Universitäten wenig Rüstzeug. Geisteswissenschaftliche wie naturwissenschaftliche Fakultäten waren blank davon, und die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften erwiesen sich als angefüllt von Apologetik des Bestehenden. Wenn dieser Zustand dann von denen, die sich auf die Suche nach besserer Ausrüstung begaben, mit dem als Verdikt gemeinten Titel „"bürgerliche Wissenschaft" belegt wurde, dann kam das nicht aus einem manichäischen Vorurteil, das allem, was aus dem Bürgertum kommt, jeglichen Erkenntniswert abspricht und nur gelten läßt, was proletarische Situation lehrt, sondern aus der realen Erfahrung der Grenzen und der heimlichen Interessengelenktheit eines Wissenschaftsbetriebes, in dem die Frage nach jenem Rüstzeug ohne Antwort blieb und in dem beharrlich verweigert wurde, die Möglichkeit des Rechtes der Zukunftsalternative von Sozialismus oder Barbarei auch nur zu bedenken.
 
Gerade vor diese Alternative aber sah sich der nach seiner Zukunft und nach der Zukunft der Menschheit fragende wache Teil der jüngeren Generation immer entschiedener gestellt.
 
Im Unterschied zu dem aufs Gegenwärtige und aufs lokal Präsente beschränkten Horizont der Älteren, ihrer Politiker und ihrer Presse ging der Blick dieser Jüngeren über ihre wirtschaftlich prosperierende, euphemistisch "Wohlstandsgesellschaft" genannte Umgebung hinaus auf die Weltzustände, auf das Elend und die Befreiungsbewegungen der sog. "dritten Welt", auf den Kolonialismus und die Heuchelei der Entkolonialisierung, auf die Repression der westlichen weißen Industriegesellschaft über die übrige Menschheit, als deren Mitprofitierende und Mitverantwortliche sich diese Jüngeren erkennen mußten.
 
Johan Galtung schrieb einmal (Kapitalistische Großmacht Europa oder die Gemeinschaft der Konzerne?, Reinbek 1973, S. 200, Anm. 22), in seiner norwegischen Heimat bleibe der Blick der Älteren an den nationalen Problemen haften, der Blick der mittleren Generation weite sich allmählich auf Europa, der Blick der Jungen richte sich auf die Probleme der Welt.
 
In der Bundesrepublik war es nicht anders. Nach den Protesten gegen die Atomrüstung, die 1959 in einem studentischen Kongreß in Berlin zum letzten Mal nach dem Verrat der Parteien an der Anti-Atombewegung ihren Ausdruck fanden und in dieser Zeitschrift fortgesetzt wurden, gab 1961 eine Ausstellung in der Freien Universität Berlin, die dem algerischen Aufstand und den Foltermethoden der französischen Kolonialisten gewidmet war, den nächsten Anlaß zum Konflikt mit den auf die gegenwärtigen Interessen fixierten staatlichen und universitären Behörden. Dann alarmierte der Vietnam-Krieg.
 
Weil für ihn aber die amerikanische Politik, die Politik der Vormacht des Westens die Hauptverantwortung trug, zerbrach das Bild der USA als der Schutzmacht von Freiheit und Fortschritt, das die ältere Generation bei uns seit 1945 gehegt hatte; der moralische Protest mußte einmünden in die Analyse der amerikanischen Gesellschaft, die die Absurdität und Bestialität dieses Krieges möglich machte. Die amerikanische Protestbewegung als Ausdruck beginnender Erkenntnis der Wirklichkeit dieser Gesellschaft zündete weltweit, und was die USA betraf, wurde rasch als gültig auch für unsere Gesellschaft erkannt.
 
Kapitalismus ein von der bürgerlichen Wissenschaft schon für obsolet erklärter Titel erwies sich als zutreffende Bezeichnung für die Bewegungskräfte dieser Gesellschaft, für die wahren Interessen, die hier verteidigt wurden, für die Hauptursachen des bedrohlichen Weltzustandes. Vom Kapitalismus schienen aber merkwürdigerweise seine Akteure und Apologeten weniger zu wissen als diejenigen, die sich gegen ihn wehrten oder mit ihm gebrochen hatten. Wurde Kapitalismuskritik zum Erkenntnisgebot, so zeigte sich dafür allein eine Kapitalismus-Analyse als brauchbar, die praktisch und theoretisch vom Standpunkt einer von der Herrschaft der Privatinteressen befreiten Gesellschaft aus unternommen wird, also die marxistische, und im Vergleich mit anderen etwa der vor kapitalistisch-konservativen und der von einigen anderen (Silvio Gesell, Rudolf Steiner usw.) entworfenen, diese an Genauigkeit und Realitätssinn überbietend sie allein.
 
Das bürgerliche Denken hatte sie, was jetzt ebenfalls analytisch verständlich wurde, nie aufgenommen; die aggressivsten Agenten der bürgerlichen Machtsicherung, Hitler und die Seinen, haben sie aus dem öffentlichen Bewußtsein ausgerottet, und ihre heutigen Fortsetzer sind eifrig dabei, diesen Zustand der Bewußtlosigkeit zu erhalten.
 
Gerade die marxistische Analyse aber wurde zum unentbehrlichen und sich bewährenden Mittel zur Erkenntnis der wirklichen Strukturen und Prozesse unserer Gesellschaft. Als diese in den Veröffentlichungen des SDS, damit auch in dieser Zeitschrift, als Klassengesellschaft, als Gesellschaft der Herrschenden denunziert wurde, entgegen dem geglaubten Schein von demokratischer Gleichberechtigung, von Volkssouveränität und Sozialpartnerschaft, wirkte das schockierend, und der Schock war für die einen abstoßend, für die anderen erkenntnisfördernd. Manche Autoren, die in diesem Reprint noch zu finden sind, wandten sich ab. Sie fürchteten, unkritisch gegen eigene Ideologien, neue Ideologisierung, nun marxistische, wo doch neue Erkenntnis sich durchsetzte.
 
Freilich kann wie alles, was in den Köpfen ist, so auch Erkenntnis ideologisiert, d. h. in den Dienst der Verhinderung kritischer Prozesse um der Erhaltung gegenwärtiger Machtstrukturen willen gestellt werden, wie auch die schwierige bisherige Geschichte des Sozialismus beweist. Aber Erkenntnis bleibt auch bei solcher Ideologisierung immer noch Erkenntnis, und ihre Befreiung von Ideologisierung, also von der Indienstnahme durch partikulare Interessen, ist ständige Aufgabe sozialistischer Selbstkritik, wie sie auch in dieser Zeitschrift geleistet wird. So ging die Entscheidung für eine sozialistische Zukunftsperspektive und die Wiederbelebung marxistischer Analyse notwendig Hand in Hand.
 
Das hat diese Zeitschrift in den folgenden Jahrgängen bis heute geprägt, damit ist sie zu einem der wichtigsten, vielleicht zu dem wichtigsten literarischen Organ der marxistischen Diskussion in unserem Lande geworden. Die Anstrengung des Begriffs, die strengsten intellektuellen Anforderungen durften nicht gescheut werden, wenn die Gefahren eines gegenwartsgebundenen Pragmatismus und eines kurzschlüssig sich selbst befriedigenden Aktionismus, diese häufigen Verhängnisse in der sozialistischen Bewegung, vermieden werden sollten.
 
Ebensowenig durfte gescheut werden die Freiheit und die unerbittliche Härte der gegenseitigen Argumentation. Wenn nach dem guten Worte Lenins Marxismus nicht ein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln ist, dann kann bei der ständig sich verändernden geschichtlichen Situation nur eine freie Diskussion der marxistischen Methode ihre Tauglichkeit als Mittel zur Erkenntnis ,der gesellschaftlichen Realität und zur Prognose sichern. Um dieser Tauglichkeit willen müssen Erstarrungen, die auf Gestriges festlegen, immer wieder aufgebrochen werden, und dies kann nur durch die Freiheit der Diskussion, also auch nur durch einen gewissen „"Pluralismus" der Diskutierenden geschehen, so daß eine marxistische Zeitschrift, will sie nicht nur Propagandaorgan für fixierte Gruppenlehren sein, sich der nicht einfachen Frage nach der Notwendigkeit und den Grenzen dieses innermarxistischen „"Pluralismus" immer neu stellen muß.
 
Dabei kann für eine solche Zeitschrift, die getragen wird von Intellektuellen, die aus dem Bürgertum kommen, und die im westlichen Milieu erscheint, der westliche Kapitalismus nicht der einzige Gegenstand sein. Sie muß diejenigen Länder, die schon aus dem kapitalistischen System ausgebrochen sind und den Aufbau einer sozialistischen Ordnung in Angriff genommen haben, ebenso in den Blick nehmen.
 
Die Frage nach dem wahrhaft sozialistischen Charakter dieser Gesellschaften und nach den Zukunftschancen des Sozialismus in ihnen ist aber eine offene, ja tief spaltende Streitfrage unter Marxisten. Gegen den manichäischen Antikommunismus der bürgerlichen Gesellschaft diesen Ländern gerecht zu werden und mit ihren sozialistischen Intentionen sich zu solidarisieren und zugleich marxistische Kritik auf alle sozialistischen Realisierungen nicht weniger als auf den Kapitalismus anzuwenden, weil allein dadurch sozialistischer Aufbau die immer drohenden Verkrustungen und Ideologisierungen durchbrechen kann, das ist die schwierige Aufgabe einer der marxistischen Diskussion gewidmeten Zeitschrift, die oft genug zur Zerreißprobe werden kann.
 
Mir scheint, „"Argument" hat bisher diese Erprobung einigermaßen bestanden, und um der Sache willen können wir nur wünschen, daß die für die Zeitschrift Verantwortlichen, denen unser Dank für ihre große Leistung gebührt, sich solcher Erprobung auch weiterhin aussetzen. Neben den inneren Gefahren, die dabei bestanden werden müssen, werden die äußeren Gefahren in einer Zeit der zunehmenden Freiheitseinschränkung in der von ihren Konflikten zunehmend bedrängten bürgerlichen Gesellschaft nicht geringer werden. Die damaligen Leitsätze der Zeitschrift (zum ersten Male in diesem Bande, AS 1/2, S. 89) haben auf dem geschilderten Wege von Protesten gegen einzelne Erscheinungen dieser Gesellschaft zu einer Fundamentalanalyse geführt und zur radikalen Infragestellung dieser Gesellschaft wegen ihrer Inhumanität und ihrer Versperrung einer menschenwürdigen Zukunft. Das wird nicht ohne Antwort bleiben von seiten der Interessierten, die sich dadurch bedroht fühlen.
 
Der Zustand bekommt einen paradoxen Anschein: Die Erhaltung der Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen, ihrer "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", wird zur Sache derer, die die bürgerliche Gesellschaft in Frage stellen, und die Vertreter dieser Gesellschaft sehen ihre Interessen mehr und mehr in Gegensatz zu den bürgerlichen Errungenschaften geraten und sich gedrängt, auf diese zu verzichten. Prophetisch lesen sich heute die Sätze in dem Spanien-Aufsatz des Jahrgangs 1961/62 von jenen sich demokratisch nennenden Politikern, denen "„die Weiterentwicklung der westdeutschen Demokratie so fern liegt wie der ihnen vom Grundgesetz aufgetragene Schutz der spärlichen Ansätze von Demokratie vor der antikommunistisch aufgeladenen Verteidigungsmonomanie, die mit totalitärem Anflug jene zu schützen vorgibt", und denen darum "„die spanische Lösung", "desto verlockender" war (S. 222f).
 
Diese Gefahren mußte vorhersehen, wer sich auf den Weg, den diese Zeitschrift gegangen ist, eingelassen hat. Solange diese Zeitschrift erscheint, die wir noch lange brauchen, soll sie eine Hilfe sein, weder vor den inneren noch vor den äußeren Gefahren zu kapitulieren und auch der Versuchung zur Resignation, die schon in jenen ersten Leitsätzen erwähnt wird, zu widerstehen.
 
Im politischen Kampf handelt es sich um die Realisierung gesellschaftlicher Erkenntnisse. Wer durch die Machtverhältnisse von solcher Realisierung ausgeschlossen ist, wer ohnmächtig zusehen muß, wie das heute dringend Nötige nicht geschieht, wie statt dessen die Kräfte der Destruktion mit ihren heutigen Opfern auch die Zukunft zu begraben drohen, der hat eine Situation zu bewältigen, die innerlich und äußerlich gleich schwierig ist.
Was eine Zeitschrift dabei helfen kann, das möge "„Argument" tun. ______
 
* Zuerst erschienen als Nachwort in: Argument-Reprint Nr. 18-21, Argument-Sonderband 1/2, Karlsruhe 1975, 295-99.

 

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