Mythos
A: ’usṭūra. – E: myth. – F: mythe. – R: mif. – S: mito. – C: shénhuà 神话
Miguel Vedda
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1676-1707
Die Geschichte der intellektuellen Arbeit am M ist einerseits geprägt durch eine rationalistische, ›entmythologisierende‹ Tradition, die mythische Konstruktionen als Ausdruck wissenschaftlicher und kultureller Rückständigkeit bzw. als ideologische oder manipulatorische Strukturen interpretiert. Andererseits durchzieht sie eine Linie, die auf die Rehabilitierung des M abzielt – bald als verborgene Quelle von Weisheit, bald als Faktor des kulturellen und politischen Zusammenhalts, bald als Standpunkt, von dem aus es möglich wäre, das »Unbehagen in der Kultur« (Freud 1930, GW 14, 419-506) zu kritisieren. In der Geschichte des emanzipatorischen Denkens – und v.a. des Marxismus – sind beide theoretischen Strömungen vertreten.
Marx charakterisiert mythisches Denken als eine »Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Einl 57, 13/641), die durch die wissenschaftliche und technische Entwicklung anachronistisch geworden ist. »Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben.« (Ebd.) Zugleich zeigt die KrpÖ, dass der Kapitalismus, weit davon entfernt, die Geister des Aberglaubens durch das Licht der aufgeklärten Vernunft beseitigt zu haben, neue Mystifikationen und Phantasmagorien hervorbringt: Erscheinungen, die nicht als bloße Illusionen bzw. Bewusstseinstäuschungen durch wissenschaftliche Aufklärung beseitigt werden könnten, sondern die notwendig aus den Praxisformen in den auf Warenproduktion und -austausch orientierten Gesellschaften resultieren. Auch in der Moderne gewachsene theoretische und ideologische Strukturen wie die faschistische Weltanschauung, darunter Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), werden Gegenstand kritischer Zerlegung durch den Marxismus. Ausgehend von Marx’ Überlegungen zum »Fetischcharakter der Ware und seinem Geheimnis« (K I, Kap. 1.4) befassen sich kritische Analysen zudem mit den im Spätkapitalismus entstandenen Mythen.
Aber es gibt auch Versuche einer materialistischen Rehabilitation des M: bald als kraftvolles Mittel, um die Massen dem politischen Quietismus und Konformismus zu entreißen, wohin sie ein ökonomistischer und szientistischer Marxismus geführt hat; bald als Inspiration für einen (romantischen) Protest gegen die Schattenseiten der kapitalistischen Entzauberung der Welt; bald als Ausdruck eines auf volle Erfüllung weisenden utopischen Impulses, in Rebellion gegen den Primat der instrumentellen Vernunft und des Leistungsprinzips. Als das einzig Unveränderliche in der Geschichte fasst dieser Strang die Sehnsucht nach einer emanzipierten Welt, in der ohne Entäußerung und Entfremdung, unter den Bedingungen einer radikalen Demokratie, das entstünde, was »allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat« (Bloch, PH, 1628).
Hervorzuheben ist die Art und Weise, wie die marxistische Ästhetik – bes. im Bereich der Narratologie – bestimmte Theorien des M (und die utopische Kraft des Mythischen) zurückgewinnt, um Konzepte zu entwickeln, die zumal den reduktionistischen Realismusbegriff shdanowscher Provenienz überwinden. Beispiele dafür finden sich nicht nur bei Ernst Bloch und Herbert Marcuse, sondern auch in Fredric Jamesons Berufung auf Northrop Fryes Theorie der Romanze als »Wunscherfüllung oder utopische Phantasie« (1981/1988, 109). Die marxistische Erzähltheorie – von Walter Benjamins, Blochs und Siegfried Kracauers Reflexionen über Märchen und Sage bis hin zu Jamesons Vorschlag, das Erzählen als Versuch zu interpretieren, eine imaginäre Lösung für reale Konflikte zu finden – enthält Dimensionen, die auch über die Grenzen der ästhetischen Diskussion hinaus fruchtbar sind.
Generell lässt sich festhalten, dass der M im ursprünglichen Sinn (a) eine Erzählung ist; (b) nicht autonom ästhetisch ist, sondern zum Verständnis der Wirklichkeit beiträgt oder darauf ausgerichtet ist, imaginäre Lösungen für reale Probleme zu bieten; © daher die Rezipienten zu beeinflussen versucht im Bestreben, Überzeugung oder Glaube zu werden; (d) ins Zentrum seiner Handlung konkrete Akteure stellt (Götter, Halbgötter, Menschen oder Tiere), nicht Kräfte oder unpersönliche Begriffe (es sei denn in Gestalt von Personifikationen); (e) Antworten auf wesentliche Fragen der Gesellschaft vorschlägt. Aus diesen Merkmalen wurde oft der unwissenschaftliche oder gar antiwissenschaftliche Charakter des M und mehr noch sein nichtsäkulares oder gar der Säkularisierung entgegengesetztes Wesen abgeleitet. Daher findet sich bereits in der Antike bei Xenophanes die aufgeklärte Auffassung des M als ›Lüge‹ sowie, umgekehrt, in der bürgerlichen Moderne seine romantische Verklärung zum Mittel gegen deren ›Übel‹. In Bezug auf letztere hat die bes. in Deutschland stark verwurzelte Tradition der ›Kulturkritik‹ seit Jean-Jacques Rousseau Mythen konstruiert, die den »normativen Punkt« (Bollenbeck 2007, 49) für eine Kritik der Moderne liefern sollen: der rousseausche »edle Wilde« (bon sauvage) und Friedrich Nietzsches dionysische griechische Antike sind dafür charakteristische Beispiele (vgl. Bollenbeck 2007, Kap. 2 u. 3).
Die Relevanz des M-Begriffs im Rahmen der marxistischen Theorie und Kritik erwächst sowohl aus seinen verschiedenen Funktionen in der Geschichte des revolutionären Denkens und Handelns als auch aus der Bedeutung, die ihm für das (Selbst-)Verständnis der kapitalistischen Moderne zukommt.
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