März 1996 – Internationaler Kongress zum Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus
zum 60. Geburtstag des Herausgebers
siehe hierzu den Band Materialien zum Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus
Gründungs-Kontext des InkriT
Frigga Haug
Rückblick auf den Internationalen Kongress zum Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus
23.-25. März 1996
Das Jagdschloss Glienicke zu Berlin ist ein guter Ort, um eine kritische Marxismus-Tagung zu veranstalten. Es ist mehrfach widersprüchlich. In idyllisch-privilegierter Lage am Wasser mit einem großen Park und wehrhaftem Turm erinnert es so lange an Schloss und feudale Eingebundenheit, bis man hineingegangen ist und sich unvermittelt in der Atmosphäre von Jugendherberge und Bildungsstätte findet. Der Kontrast zieht sich durch: spartanische Schlafzimmer mit bis zu drei Betten, die selbst zu beziehen sind, und große helle Veranstaltungsräume mit weiten Fensterfluchten und gediegenem Eichenholz. Ein guter Ort, sich kritisch- historisch ans. erk zu setzen; auch ein Raum, in dem angemessen in Widersprüchen zu streiten ist, in dem in befreiender Absicht zu denken möglich ist.
Der Geist des Hauses fand sich ebenso in unserer Gestaltung der Tagung. Sie war voll von Geschichte und ebenso von Arbeit, über fließend und spartanisch zugleich. Für das, was man den geselligen Teil des sechzigsten Geburtstags des Herausgebers nennen könnte, hatten wir einen Abend vorgesehen, nach einem Tag, an dem wir von 9 bis 22 Uhr unermüdlich gearbeitet hatten. Und so war das gesamte Programm gebaut: 12 Sitzungen mit bis zu drei Referaten in nur eineinhalb Tagen. Wir wollten diese einmalige und wohl schwer nur wiederholbare Chance, dass wir von den 600 Mitarbeitenden 80 versammeln konnten, wirklich nutzen. Jede und jeder sollte zu Wort kommen können und sich in Auseinandersetzung mit anderen erfahren und doch als Teil eines gemeinsamen Projekts. So wollten wir uns streiten, Vielfältigkeit, Unterschiedlichkeit verlebendigt sehen und uns kritisch so zusammenzutun, dass dieses Werk weiter möglich wird, dass aus dem Nebeneinander ein wirklicher Diskussionszusammenhang werden kann.
Die Tagung war um die Arbeit am Wörterbuch organisiert. Insbesondere die Autoren und Autorinnen der Bände 3 und 4, die in diesem und im nächsten Jahr fertiggestellt werden sollen, waren gebeten, ihre Stichworte vorzustellen. Die Form war die gleiche, wie wir sie in der Werkstatt, die die Arbeit am Wörterbuch in Berlin voranbringt und deren Mitglieder ebenfalls anwesend waren, seit Jahren praktizieren. Auf das thesenhaft vorgestellte Stichwort haben sich wenigstens zwei vorbereitet zu kritisieren – im produktiven Sinn von Kritik –, und alle haben Gelegenheit, weiteren Rat hinzuzufügen. Wir wollten zugleich um Verständnis für unsere schwierige Arbeit der Einmischung wecken als auch einsichtig werden lassen, dass die einzelnen Stichworte Mosaiksteine in einem größeren Gesamt sind. Das sollte uns zudem anstiften, Band 3 wirklich in diesem Jahr zum Abschluss zu bringen, und allen sinnliche Erkenntnis vermitteln, wie eigentlich mit ihren Produkten von uns umgegangen wird.
Die Tagung begann erwartungsgemäß mit Spannungen. Eine Reihe von Angemeldeten war nicht gekommen, Unfälle, Krankheit – es schien, als ob die Werkstatt unter einem unglücklichen Stern stand – , andere Mitarbeiter mussten als Votanten oder Moderatoren einspringen, und neue Texte wurden mitgebracht, die über Nacht studiert werden mussten. Beschwerden, so nicht richtig vorbereitet zu sein, begleiteten die vorgetragenen Überlegungen, als ob es jedermanns Gewohnheit wäre, unter günstigeren Bedingungen tagelang über einem Diskussionsbeitrag zu brüten. Aber schon nach kurzer Zeit konnten alle Beteiligten Zeugen und Zeuginnen sein, wie sich die so Unterschiedenen und zumeist einander Fremden und üblicherweise in ausgrenzendem Wettstreit Verpflichteten in ein engagiertes Arbeitskollektiv verwandelten. Der Standort Berlin hatte dazu beigetragen, dass die Hälfte der Teilnehmenden aus der ehemaligen DDR kamen, sich als anders im Marxismus gebildet und gerade darum als unermüdliche und unentbehrliche Diskutanten im Streit herausstellten.
Aus mehreren Gründen hatten wir als erstem Wolfgang Fritz Haug mit dem Stichwort Erscheinung das Wort gegeben. Es sollte ein Geschenk sein, dass er seine Arbeit vorstellen durfte, aber mehr noch wollten wir die Schwierigkeit diskutierbar machen, dass er zugleich Autor und also Partei ist, in dieser Symphonie eines vielstimmigen Wörterbuchs sowohl ein Instrument spielt als auch der Dirigent ist. Das Stichwort Erscheinung war zudem in besonderem Maße geeignet, weil hier W.F. Haugs spezifische Position im Marxismus von ihm dargelegt werden konnte. Er historisierte das Auftauchen der Erscheinungsmetapher nicht nur, er bezweifelte auch weitgehend ihre kritisch-analytische Kraft und führte sowohl das Ringen und die vielseitige und widersprüchliche Verwendung des Begriffs bei Marx selbst vor wie auch die einlinige und zumeist verhängnisvolle Tradition, die das Reden von Wesen und Erscheinung fand. Dabei schärfte er ein, die Verwendung des Begriffs auch bei Marx in den ganz unterschiedlichen Kontexten – mal als Alltagsbegriff, mal analytisch gemeint, mal anlehnend an den vorhandenen Sprachgestus – immer zu beachten.
Die Diskussion war sofort lebhaft und kontrovers. Während der Votant aus Finnland (Juha Koivisto) Haugs Leseweise durch zusätzliches Studium insbesondere von Descartes, Kant und Hegel unterstützte, wollte Tomberg an einem Marx festhalten, der zwischen Oberfläche und Tiefe ebenso zu unterscheiden wusste wie zwischen Wesen und Erscheinung. Insbesondere klagte er ein, dass nicht von Parmenides sondern von Epikur ausgegangen werde, und vor allem, dass mit Haugs Vorschlag Erkenntnisentwicklung als solche preisgegeben sei. In der dialektischen Denkweise sei der Gegensatz von Wesen und Erscheinung immer präsent, aber zugleich aufgehoben.
Krätke aus den Niederlanden fühlte sich ungemütlich provoziert, da ihm nicht ausreichend klar schien, ob Haugs Thesen einen allgemeinen Metaphysikverdacht aussprechen wollten oder einfach eine Provokation seien. Symptomatisch schien ihm, dass Popper kritisch hervorgehoben sei, den er für eine zu leichtgewichtige Figur halte. Er schlug vor, sich statt dessen Della Volpe kritisch zu nähern.
Eine Kollegin aus der ehemaligen DDR wies darauf hin, dass das Paradox zwischen Wesen und Erscheinung ja nicht nur Frage des theoretisierenden Bewusstseins, sondern ebenso im Alltagsbewusstsein präsent sei. So wisse ein jeder, dass der Knick, den man an einem Stock im Wasser wahrnimmt, eine Täuschung ist. Michael Heinrich (Berlin) wollte die Kritik differenzierter nach den jeweiligen Aussagentypen geleistet wissen, und Kurt Pätzold aus der ehemaligen DDR schließlich forderte, die Wesen/Erscheinungs-Auffassung nicht ontologisch, sondern als einen Ausdruck des Ins-Verhältnis-Setzens zu begreifen. Die Zeit für die Diskussion war, wie in der Folge immer, viel zu kurz, so dass der Moderator (Erich Wulff aus Hannover) gerade noch Zeit fand, auf die Aktualität des Streits um diesen Begriff zwischen Essenzialismus und Postmoderne zu verweisen.
Im Anschluss stellte Bastiaan Wielanga sein Stichwort Revolution vor. Die folgende heftige Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, ob die Art der revolutionären Praxis – gewaltsam, destruktiv – nicht folgenreich sei für die Entwicklung danach, ob mithin also als Revolution nicht umfassend der Gesamtprozess der Veränderung zu begreifen sei. Für Wielenga war dies auch ein Plädoyer, die Bewegungen in der »Dritten Welt« schärfer zu sehen. Für andere schien in dieser Diskussion die Möglichkeit von Umgestaltung neue Aktualität zu haben. Die Diskussion wurde am Abend fortgesetzt.
Im Fortgang teilte sich die Gruppe zunächst, und man konnte, wie bei so großen Tagungen üblich, zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen wählen, die aus gesellschaftstheoretischen, sprachlichen, subjektwissenschaftlichen, theologischen, musikästhetischen und allgemein theoretischen Kontexten Stichworte diskutierten. Das Durcheinander, das einen zwang, sich mal für Engagement, mal für Gleichgewichtstheorie oder das eherne Lohngesetz zu interessieren, zeigte zugleich die ungeheure Bandbreite marxistischen Denkens und machte Interdisziplinarität zu ansteckender Praxis. Das Gefühl, nicht kompetent oder nicht zuständig zu sein, wich dem Interesse, vieles wissen zu wollen, und dem Gefühl, gemeinsam an einer wichtigen Aufgabe zu sitzen, die nur kollektiv bewältigt werden kann. Zugleich erfuhren diese vielen sich marxschem Denken widmenden Theoretiker und Theoretikerinnen seit langem wieder einmal, dass sie als einzelne dennoch nicht allein sind, sondern dass viele so zusammen arbeitend vieles vollbringen können.
Diese kollektive Aneignung des Projektes wurde in den Pausen staunend und aufgeregt diskutiert. Dabei waren die einzelnen Sitzungen durchaus nicht unproblematisch. Es gab Schwierigkeiten, die Autoren und Autorinnen auf die Ansprüche eines Begriffswörterbuchs mit vielfachen Eintragungen und Verknüpfungsmöglichkeiten zu verpflichten – statt jeweils selbst einen enzyklopädischen Artikel zu schreiben. Und es gab umgekehrt die Tendenz, je mehr die Arbeit voranschritt, desto umfangreichere Auflagen, Literaturnweise, Zusatzkenntnisse in die einzelnen Stichworte hineinbringen zu wollen. Hier Einhalt gebieten zu müssen, öffnetean anderer Stelle die Schleusen: Zusatzstichworte und neue Begriffe wurden in größerem Umfang vorgeschlagen, so dass allein auf dieser Tagung das Gesamtwerk wiederum um mindestens 30 Stichworte zunahm.
Obwohl der Bericht ausschließlich gemeinsame Arbeit vorstellt, gab es auch weiteres Vergnügliches. Am Geburtstagsabend sangen und spielten Gina Pietsch und Hannes Zerbe Gedichte von Volker Braun, der, selbst anwesend und in Arbeitsgruppen mitstreitend, zusätzlich aus seinem an diesem Abend schon in einem ersten Exemplar vorliegenden neuen Buch las. Das Eigentümliche aber war, dass die Unterschiede, ob man als Zuhörende Kunst erlebte oder sich theoretisch größerer Zusammenhänge und schwieriger Details versicherte, langsam weniger wichtig wurden. Alles war Produktion in einem emphatischen Sinn.
In der gemeinsamen Abschlusssitzung wurden zwei Themenbereiche zentral. Wie können die neuen Problematiken – Feminismus, Nord-Süd, Ökologie –, die im herkömmlichen Marxismus wenig Tradition und Vorarbeit finden und deren Brennpunkte zudem jetzt erst scharf hervortreten, besser und vor allem mit mehr Menschen bearbeitet werden? Die engagiert geführte Diskussion endete in einer Art Selbstverpflichtung, in Zukunft jedes Stichwort unter den drei Fragen zu überprüfen. Zudem bildete sich eine Ökologie-Redaktionsgruppe, für die Rolf Czeskleba-Dupont (Kopenhagen) und Michael Krätke (Amsterdam) sich verantwortlich erklärten.
Die zweite, mindestens ebenso heftig geführte Diskussion galt dem Projekt als Ganzem und seiner Durchsetzung sowie einer gesicherteren und auch intensiveren Durchführung. Peter von Oertzen sprachaus, was einerseits zu den Sternen gegriffen schien, andererseits allgemein Zustimmung fand. Bis zum Ende des Jahrtausends müsse dieses Werk Standardwerk in jedem Ausbildungszusammenhang sein. Dabei war man sich über den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik, von Ausgrenzung und Einschließung, von der Notwendigkeit von Kapitalismuskritik und Pluralität durchaus nicht einig. – Es wurden die bereits vorliegenden ersten beiden HKWM-Bände noch schnell kritisch besichtigt, manchmal zuviel Wissensbestände anstelle politischer Eingriffe, manchmal strategische Lücken angemerkt. Aber ganz sicher war die vielstimmig artikulierte Hoffnung, solche Tagungen würden wiederholt, würden zu einer Art Dauereinrichtung, die die Arbeit am Wörterbuch verdichten und zur sinnvollen Kooperation anstiften könnte. Einen befreienden Umgang mit Marx im Streiterfahrbar werden lassen könnte. Lediglich der Zeitraum, ob es in jedem Jahr oder alle zwei Jahre stattfinden solle, blieb offen.
Während dies alles geschah, hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Antrag um Unterstützung abgelehnt, so dass dieses Projekt eines 12bändigen Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus jetzt ausschließlich auf den Schultern derer, die mitarbeiten, liegen wird – inhaltlich, ökonomisch und organisatorisch. Hilfe wird also auf allen Seiten für dieses Projekt überlebensnotwendig.1
1 Inzwischen wurde, einem Impuls Peter von Oertzens folgend. das Institut für kritische Theorie InkriT gegründet, dessen Hauptaufgabe die Sicherstellung der weiteren Arbeit am Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus sein wird.
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v.l.n.r. Rolf Czeskleba-Dupont, W.F.Haug. Frigga Haug, Peter von Oertzen
v.l.n.r.: Georg Knepler,Florence Knepler, Karen Kramer Volker Braun, Florian Schmaltz (stehend), Dick Boer, dahinter Otto Zonschitz, Bastian Wielenga
v.l.n.r.: Thomas Marxhausen, Georg Knepler, Peter von Oertzen, Bastian Wielenga, Michael Krätke, Georg Auernheimer
v.l.n.r. Christian Treichel, Frigga Haug, Bastian Wielenga, Peter von Oertzen, Thomas Weber