VII. Internationale InkriT-Tagung
Krisen / Kriege / Klassenkämpfe
29. Mai bis 1. Juni 2003 in Berlin, Teikyo University
Krisen-Kriege-Klassenkämpfe.
VII. internationale InkriT-Konferenz,
vom 29. Mai bis 1. Juni 2003
in Berlin, Teikyo University
Vor dem Hintergrund einer andauernden weltweiten wirtschaftlichen Krise, die in Deutschland vor allem als Krise am Arbeitsmarkt wahrgenommen wird, einem offiziell gerade ein paar Wochen beendeten Krieg gegen den Irak und einem europaweiten Generalabbau der Sozialsysteme, welcher in einigen Ländern zu den größten Streikaktionen seit dem Ende des 2. Weltkrieges geführt hat, fand zum siebten Mal die Internationale Konferenz des Berliner Instituts für kritische Theorie statt. Den Schwerpunkt bildete auch in diesem Jahr die Arbeit am Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus. Aus der Logik der Publikation stand vor allem der 2005 erscheinende Band 7 im Mittelpunkt. Dass er ohne Ausnahme Lemmata zum Buchstaben K beinhaltet, war, angesichts der uns umgebenden und bewegenden Geschehnisse, eine Zufälligkeit, die, zynisch gesprochen, einen Glücksfall darstellte. Welche drei Begriffe könnten die Realität -- zumindest in deutschsprachiger Hinsicht -- treffender beschreiben als Krisen, Kriege, Klassenkämpfe?
Mit seinen Nachgedanken zum jüngsten Krieg der USA gegen den Irak eröffnete Werner Goldschmidt (Hamburg) die Reihe der Plena, die traditionell der aktuellen Politik gewidmet sind. Mit Gramsci analysierte er die Widersprüche zwischen den USA und Europa, sowie innerhalb Europas, als Ausdruck verwirkter Hegemonie der USA im Sinne von Führung und einem Übergang zur Dominanz der USA aufgrund seiner militärischen Übermacht. Samir Amin (Dakar) zeichnete die Geschichte des Imperialismus seit der Potsdamer-Konferenz nach und legte die strukturellen Veränderungen offen, die sich aus dem Neoliberalismus als herrschender Ideologie und politischer Kultur ergeben. Auf die Gefahr, hierbei den Imperialismus auf das politische und ökonomische Kräfteverhältnis zwischen Europa und den USA zu reduzieren und damit Europa zu verklären, wies Ulrich Brand (Kassel) hin, dem es u.a. um die genauere Identifizierung der Terrains sozialer Kämpfe ging.
Diese verschob Pablo González Casanova (Mexiko-City) zur Frage nach globaler Krise und globalen Kämpfen in Lateinamerika. Verónica Gago und Diego Sztulwark (Buenos Aires) berichteten von konkreten Erfahrungen und ihrem basisdemokratisches Verständnis der Argentinien-Krise, in deren Kontext bzw. Vergleich mit Brasilien Klaus Meschkat (Hannover) die Frage nach einer adäquaten Strategie grundlegender gesellschaftlicher Veränderung aufwarf und der Entwicklung in Brasilien eine größere Reichweite zurechnete.
Mit Moshe Zuckermanns (Tel Aviv) Vortrag rückte die Auseinandersetzung ins Zentrum, welche Michael Brie (Berlin) einleitend als „wichtigsten globalen Konflikt unserer Zeit“ bezeichnete, von dessen „Lösung die Zukunft des 21. Jahrhunderts maßgeblich abhängt“. Zuckermann ordnete die jüngsten Äußerungen eines Sharon hinsichtlich der israelischen Besetzung und eines palästinensischen Staates begründet ein und zeigte sie hierdurch vor allem als Rhetorik. Die begründeten Zweifel jedoch nutzte Zuckermann, um das vorzustellen, was er als „israelisches Dilemma“ bezeichnete: Im Zuge der Rückgabe der Gebiete und der Räumung der Siedlungen komme es zu einer Konfrontation, in der der Staat Israel sein Gewaltmonopol gegen die Siedler einsetzten müsse und letztlich „Juden auf Juden schießen müssten“. Die ersten Reaktionen auf die Gespräche in Akaba bestätigen diese Befürchtungen. Die jüngsten Konfrontationen mit der Hamas zeigen, dass eine ähnliche Problematik auch für die Palästinenser entscheidend werden kann und ein doppelter Bruderkrieg in Bezug auf die road map denkbar ist.
Die konkrete Arbeit an einzelnen Stichwörtern des HKWM reichte von herrschende Klassen von Hans-Jürgen Krysmanski (Münster), historisch-kritisch von Wolf Haug, quasi dem titelgebenden Stichwort des HKWM, über Immigration von Rose Folson (Toronto), Informationskrieg von Elvira Claßen (Trier) bis zu Ironie von Thomas Barfuss (Chur) u.v.a.m. Insbesondere die Werkstatt zum Artikel hochtechnologische Produktionsweise von Frigga Haug (Esslingen) und Christof Ohm (Berlin) zeigte, dass es dabei nicht nur um das kritische Aufarbeiten einer langen Begriffsgeschichte geht, sondern um das Abklopfen der Begrifflichkeiten in Hinblick auf gegenwärtige Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise bzw. um die Reartikulation, ja Neuschöpfung von Begrifflichkeiten.
Die Werkstätten zeichnen sich durch ihren intensiven Arbeitscharakter aus, der weit über das bloße Austauschen und Diskutieren unterschiedlicher Positionen und Ansätze hinaus auf einen kollektiven Prozess des Lernens und der Verständigung über die Anlage der jeweiligen Stichwort-Artikel zielt. Die Entwürfe der Artikel werden zuvor verschickt. Der größte Teil der Konferenzbesucher ist durch Vorbereitung eigener Stellungnahmen, Kritik, Ergänzungen etc. wie ein „Redakteur“ tätig. Die Ergebnis-Orientierung und die Aufhebung der scharfen Trennung von Vortragenden und Zuhörern stiftet eine ansonsten auf Tagungen selten anzutreffende Intensität des Zusammenarbeitens.
Im Hinblick auf ihre Internationalität und den Anspruch, Netzwerke zu knüpfen, war die Konferenz hervorragend besetzt. Die über 100 Teilnehmer aus mehr als 15 Ländern aller Kontinente belegen eine fortschreitende Internationalisierung der Arbeit am Wörterbuch. So nimmt zum einen die Übersetzung des HKWM ins Englische Konturen an, zum anderen ist der erste Band des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Feminismus Realität geworden, welcher sowohl ins Spanische als auch ins Russische übersetzt wird. Letzteres ist insbesondere dem Engagement der Rosa Luxemburg Stiftung zu verdanken bzw. wurde nicht zuletzt durch das neu eröffnete Vertretungsbüro der Stiftung in Moskau und dem dortigen besonderen Interesse an diesem Wörterbuch ermöglicht.
Abschließend bleibt noch zu erwähnen, dass sich der eingangs beschriebene „Glücksfall“ auch durchaus zur Belastungsprobe hätte entwickeln können. Es bestand die Gefahr, dass die Arbeit am Wörterbuch angesichts der Verdichtung aktueller Geschehnisse in den Hintergrund gedrängt würde. Dem war letztlich nicht so. Der besondere Charakter der InkriT-Konferenzen, der durch eine offene generationsübergreifende Internationalität und die Möglichkeit, in den einzelnen Werkstätten in kleinen Gruppen mit herausragenden Vertretern der internationalen Linken theoretische Arbeit an Begriffen zu leisten, entsteht, zeigte sich auch in diesem Jahr.
Marc Hanisch (Essen)