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Juni 2000 - IV. Internationale InkriT-Tagung

Gerechtigkeit - Gewalt - Hegemonie

InkriT: Eine Werkstatt unabhängigen gesellschaftskritischen Denkens
Auf der Suche nach verlorenen Gewissheiten
Von Wolfgang Küttler
Erschienen in Neues Deutschland, vom 11./12. Juni 2000

Als eine internationale und zugleich interdisziplinäre Werkstatt für am Marxismus orientierte gesellschaftstheoretische und wissenschaftliche Arbeit erwiesen sich alle bisherigen Konferenzen des Berliner Instituts für Kritische Theorie e.V. (INKRIT). Die am vergangenen Wochenende stattgefundene Jahrestagung, zu der INKRIT zusammen mit dem Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und der amerikanischen Zeitschrift »Boundary 2« einlud, bestätigte dies. Verbunden sind diese Konferenzen mit dem verdienstvollen Großprojekt des »Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus«, das vom INKRIT-Leiter Wolfgang Fritz Haug herausgegeben wird und auf 15 Bände angelegt ist, von denen inzwischen vier Bände vorliegen (s. ND v. 9.6.).

Die über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Tagung kamen aus Ost- und Westdeutschland, 14 europäischen Ländern sowie aus Australien, Kanada, den USA,Mexiko und Indien. Sie repräsentierten Fachkompetenz in einer Vielzahl von Fächern, von der Philosophie bis zur Informatik, von der Soziologie bis zur Theologie. Besonders erfreulich war auch die starke Präsenz und Aktivität der jüngeren Generation, von der die Zukunft des anspruchsvollen Unternehmens entscheidend abhängt.

Das Generalthema lautete »Gerechtigkeit - Gewalt - Hegemonie. Proben aufs Exempel marxistischer Begriffe«. Zur Diskussion standen ausgewählte Stichworte des in Arbeit befindlichen fünften Bandes des Marxismus-Wörterbuches (von »Gegenöffentlichkeit« bis »Hegemonie«). Die Problematik der Gewalt wurde vor allem unter dem Aspekt barbarisierender Wirkungen des neoliberal orientierten globalen Kapitalismus diskutiert, die Themen Gerechtigkeit und Hegemonie lenkten die Aufmerksamkeit auf das gegenwärtig für die Linken besonders prekäre Problem, wie soziale Bewegungen und Gegenmächte unter den veränderten »postmodernen« Bedingungen hegemonial werden können und was unter Hegemonie zu verstehen ist.

Grundfragen von historischer Bedingtheit und individueller Aktivität wurden auch im Zusammenhang mit dem innermarxistischen Streit um Determinismus und Überdeterminismus sowie mit den Artikeln über Geschichtsgesetze, Geschichtsphilosophie, Gesellschaft und Geschlechterverhältnisse diskutiert. Bemerkenswert war die Offenheit für allgemeine lebenspraktische und philosophische Diskurse, die nicht genuin aus dem Marxismus entstanden sind, diesen aber in Vergangenheit und Gegenwart involvieren, wie über »Geist«, »Gemeinde«, »Glauben«, »gesunden Menschenverstand«, »Gemeinsinn« oder über Probleme der so genannten Informationsgesellschaft (z.B. zum Stichwort »Hacker«). Hier ging es um die interessante Frage, ob sich mit den neuen technischen Umwälzungen zugleich auch Tendenzen einer neuen Produktionsweise herausbilden, die mit den Grundlagen des Kapitalismus nicht mehr verträglich sein könnten.

Was die kritisch diskutierte Praxisrelevanz betrifft, so ist zweifellos schon viel erreicht, wenn - um eine Bemerkung Haugs in der Diskussion aufzunehmen - mitten in den »Trümmern« verlorener Gewissheiten Wissenselemente konserviert und neu gestaltet werden sowie Hintergrundinformationen für aktuell Auseinandersetzungen geboten werden. Evelyn Wittich von der Rosa-Luxemburg Stiftung würdigte das Wörterbuch -Projekt und betonte, dass es der Arbeit ihrer Stiftung zugute kommen werde.

Eingewandt werden muss allerdings, dass noch erhebliche Rückstände bestehen bei der Kenntnis und kritischen Aufbereitung der oft sehr pauschal und negativ unter »Marxismus-Leninismus« subsumierten Philosophie und Wissenschaft in den sozialistischen Ländern vor 1989. Umgekehrt bedarf es dringend auch größerer Bereitschaft von deren noch tätigen Vertretern zur aktiven Mitarbeit. Zum anderen wurde auch nachdrücklich darauf verwiesen, wie dringlich eine Erweiterung der Nord-Süd-Kooperation ist . Das Historisch-Kritische Wörterbuch zeigt auch in seinen Problemen, wie außerordentlich wichtig die erfolgreich praktizierte Einheit von Publikation, alltäglichem Netzwerk und größeren Tagungen ist.

Abschließend sei noch auf die vorzügliche Soiree über Eisler, Brecht und den 17. Juni hingewiesen, die Günther Mayer mit jungen Mitarbeitern der Hanns-Eisler-Werkausgabe zur kulturellen Begleitung und Bereicherung der Jahrestagung des INKRIT gestaltet haben. Vorgestellt wurden dabei auch bisher unbekannte Briefe von Brecht und Eisler zu Problemen der SED-Kulturpolitik und der gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der Krise von 1953.

 

A Workshop of Independent Social Criticism
On the fifth international InkriT-conference
by Wolfgang Küttler
(Max-Planck-Institut f. Geschichte)

Remarkable international and interdisciplinary workshops in marxist-oriented socio-critical scholarly work have been realized in recent years by the Berlin Institute of Critical Theory (INKRIT). This impression was confirmed by the INKRIT conference 2000, the fifth since the institution's foundation in 1996. It was heldlast weekend (June 1-4) in conjunction with the Institute of Philosophy of the Freie Universität Berlin and the US-American journal Boundary 2. These conferences are linked to the Historico-Critical Dictionary of Marxism (HKWM), edited by the InkriT-chairman Wolfgang Fritz Haug. The Dictionary, a venture designed to comprise a total of 15 volumes, has advanced to four volumes so far published.

This year's conference attracted more than one hundred participants from all parts of Germany, from fourteen European countries, from Australia, Canada, the USA, Mexico and India. They represented experts of many disciplines, among them philosophers, computer scientists, sociologists, theologians. A gratifying proportion of those attending the conference and making contributions were of the younger generation on whose commitment the future of the venture depends.

General subject of the conference 2000 was "Justice/Violence/Hegemony: Putting Marxist Concepts to the Test". In four plenary sessions and nearly 30 workshops selected entries appertaining to volume 5 of the Marxism-Dictionary ("Counterpublic" to "Hegemony") were submitted for discussion. Problems of violence were viewed against the background of neoliberally oriented global capitalism and its barbarian effects. The debate on justice and hegemony drew attention to the predicament of the left in respect of the meaning of hegemony and how to achieve it under "postmodern" conditions.

Basic issues of historical interdependence and individual agency were raised in connection with the intermarxist controversy on determinism and overdetermination. They were also focused on in the discussion of the articles on laws of history, philosophy of history, society, and gender relations. The unbiased approach to general practical and philosophical discourses on issues outside the general orbit of Marxism but connected with it in the past and present deserves a special mention: Entries in the dictionary discussed comprised spirit (Geist), parish/community (Gemeinde/Gemeinschaft), common sense, various matters relating to the so-called computerised world, e.g. the entry on hacker (here the debate focused on germinal elements of an alternative mode of production, fostered by computer + internet, and tendentially transcending capitalism).

As for the practical relevance of the discussions, it was felt that much is achieved, if - to take up a remark by Haug - amidst the debris of lost certainties elements of knowledge are recovered and re-thought under the new conditions, and if background analyses can be developed for the actual political struggles. To make such scholarly works available was considered an invaluable contribution by Dr. Evelyn Wittich, head of the Rosa-Luxemburg-Foundation.

A great deal still needs to be done to acknowledge and critically evaluate philosophy and social sciences in the socialist countries prior to 1989, often too globally and derogatorily subsumed under Marxism-Leninism. On the other hand, their still active representatives should show more readiness to cooperate. Another urgent task of the editorial committee of the Dictionary is to expand cooperation between scholars from the North and the South. Even in its problems, however, the Historico-Critical Dictionary of Marxism reveals the enormous usefulness of its successfully practiced unity of publishing, networking, and organising international conferences.

A most enjoyable evening entertainment was provided to the InkriT-fellows by Günther Mayer and a number of young contributors to the Hanns-Eisler-Edition who presented a musical and poetic collage on Eisler, Brecht and the 17th June 1953.

(From: "Neues Deutschland", June 10-11, 2000, p. 18; translated by Hanna Behrend)

 

Gibt es unter Marxisten ‘Sieger’ und ‘Besiegte’?
Internationale Tagung des Berliner Instituts für kritische Theorie (1.-4. Juni 2000)
Werner Schmidt (Stockholm)

Im Vorwort zum ersten Band des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM) schrieb der Herausgeber Wolfgang Fritz Haug im Herbst 1994, dass die geschichtliche Konstellation für das Projekt eines solchen Wörterbuchs „günstig und widrig zugleich“ sei. Günstig sei „der Zusammenbruch staatsmarxistischer Zensur für das Nach-Denken des Gewesenen“, die Theorien seien „herrenlos“. Widrig sei dagegen „der unhistorische Griff der‚ Sieger’ nach der Geschichte, der in vielem einer Auslöschung des gesellschaftlichen Gedächtnisses gleichkommt“. Die ‚Sieger’ ließen und lassen nichts unversucht, in dem Schuttberg, den der untergegangene Marxismus-Leninismus hinterlassen hat, auch „die rationalen Elemente des Untergegangenen und die in ihm enthaltenen Zukunftskeime“ vermodern zu lassen. Das Editionsprojekt verfolgte deshalb u.a. das Ziel, durch rücksichtslose, rettende Kritik (Walter Benjamin)„ menschheitliche Schätze aufklärerischen Wissens und sozialer Phantasie aus diesem Untergang zu retten“.1

Die bisher erschienenen vier Bände des HKWM deuten auf ein Gelingen dieses Vorhabens hin. Doch stellt sich mir als Teilnehmer der jährlichen Tagungen des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT), die dieses Projekt unterstützen und begleiten, die Frage, ob die Theorien wirklich „herrenlos“ geworden sind. Oder anders gefragt: Was wurde verloren, und wer muss zu den Verlieren gezählt werden? Gibt es auch ‚Sieger’ unter denen, die sich bestimmten marxistischen Traditionslinien zugehörig fühlen?

Die diesjährige Tagung im Jagdschloss Glienicke zu Berlin stand unter dem Motto „Gerechtigkeit/Gewalt/Hegemonie–PROBEN AUFS EXEMPEL MARXISTISCHER BEGRIFFE“. Wie bei den vorherigen Tagungen war auch diesmal der Hauptzweck der Zusammenkunft, Artikelentwürfe zu ausgewählten Begriffen des kommenden Wörterbuchbandes (Band 5: Gegenöffentlichkeit–Hegemonismus) zu präsentieren und kritisch-konstruktiv zu diskutieren. Nach einem Grußwort des Dekans des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin, Gert Mattenklott, eröffnete Etienne Balibar (Paris) die Tagung mit einem Referat zum Thema „Gewalt und Politik“. Als wichtige Begriffe, die während der vier Tage in Wörterbuch-Werkstätten diskutiert wurden, seien hier genannt: Geist (W F Haug), Gerechtigkeit (Anneliese Braun, Berlin, Hermann Klenner, Berlin, Georgios Sagriotis, Athen, und Bas Wielenga, Madurai/Indien), Geschichtsgesetze (Gabriel Vargas Lozano, Mexiko), Geschichtsphilosophie (Frieder O. Wolf, Berlin), Geschlechterverhältnisse (Frigga Haug), Handlungsfähigkeit (Rinse Reeling Brouwer, Amsterdam) und Hegemonie (Alastair Davidson, Australien, z.Zt. Princeton/USA, Dick Boer, Amsterdam). Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die inhaltliche Diskussion zu den einzelnen Begriffen eingehen, sondern mich vielmehr der oben gestellten Frage zuwenden.

In dem bereits zitierten Vorwort ahnte W F Haug schon, dass ein solch ehrgeiziges Editionsprojekt, an dem mehrere hundert marxistische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt beteiligt sind, nicht ohne Komplikationen verwirklicht werden kann. So befürchtet er z.B., dass der notwendige Versuch, „dem Kritisierten historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, nicht immer gelingen wird, denn: „Das Besserwissen, das sich nach einer Niederlage einstellt, ist nicht unbedingt besseres Wissen.“2 Im Vorwort zum vierten Band, an dem 105 Autorinnen und Autoren aus allen Teilen Europas, aus Asien, Australien, Lateinamerika und den USA mitgewirkt haben, wies Haug auf die gewachsenen redaktionellen Schwierigkeiten hin, die sich aus dieser Pluralität, aus „der Ausweitung des Gesichtskreises und der wachsenden Vielfalt der politisch-kulturellen Herkunft“ der Mitwirkenden zwangsläufig ergeben.3 Vor diesem Hintergrund kam den Tagungen - neben der inhaltlichen Diskussion – eine immer wichtigere ‚atmosphärische’ Funktion zu.

Mit dem Wörterbuchprojekt und den Tagungen wurden vielen ostdeutschen marxistischen Intellektuellen ein willkommenes gesamtdeutsches und internationales Forum geboten, in das sie sich sinnvoll einbringen konnten. Doch wie in anderen gesamtdeutschen Zusammenhängen wurde auch hier die Zusammenarbeit durch westliche Voreingenommenheiten und unreflektierte Überheblichkeiten gestört. Auf der diesjährigen Tagung entluden sich endlich diese ost-westlichen ‚atmosphärischen Störungen’, die schon seit längerem sporadisches Knistern verursacht hatten, in einem – hoffentlich - reinigenden Gewitter. Einige westdeutsche Beiträge wurden von ostdeutscher Seite entweder als penetrant besserwisserisch oder als undifferenziert und uninformiert zurückgewiesen. Ihre Kritik wurde auch von ‚westlichen’ Marxisten, wie z.B. Domenico Losurdo (Italien), geteilt.

Die Vorfälle wurden auf dem abschließenden Grossen Ratschlag in einer konstruktiven Diskussion behandelt. Es wurde festgestellt, dass der Zusammenbruch 1989/90 die Marxisten nicht in Sieger und Besiegte geteilt hat. Wir haben alle eine Niederlage erlitten. Man einigte sich auch darauf, die Ergebnisse marxistisch-leninistischer Forschungen im Realsozialismus nicht pauschal als Dogmatismus zu verwerfen. Stattdessen muss ein eventueller Dogmatismusvorwurf immer konkret herausgearbeitet und belegt werden.

In diesem Zusammenhang ist es angebracht, den unschätzbaren – nicht nur inhaltlichen, sondern auch mobilisierenden und moderierenden - Beitrag hervorzuheben, den Frigga und W F Haug für das Zustandekommen und das Gelingen dieses, für die Zukunft eines an Marx orientierten Denkens überaus wichtigen, Projektes leisten.

Dr. Werner Schmidt, Stockholm, Historiker


1 Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 1, Argument-Verlag 1994, S. IIf.
2 Ebd., S. III.
3 HKWM, Band 4, Argument-Verlag 1999, S. III.

 

 

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