Bedürfnis

A: ḥādja. – E: need. – F: besoin. – R: potrebnost'. – S: necesidad. – C: xuyao

Heinrich Taut

HKWM 2, 1995, Spalten 116-127

Das Wort gelangte im 18. Jh. in den allgemeinen Sprachgebrauch und bedeutet sowohl den Zustand, aus dem das Subjekt etwas bedarf, wie auch den Gegenstand, dessen es bedarf. Dominierte zunächst die Identifikation von B mit dem betreffenden Gegenstand (so bei Engels: »nötigste Lebensbedürfnisse«), umfaßte der Begriff bald das Spannungsverhältnis selbst. »B, Trieb sind am nächsten liegende Beispiele vom Zweck. Sie sind der gefühlte Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjekts stattfindet, und gehen in die Thätigkeit, die Negation […] zu negiren.« (Hegel, Enz, §204) »Solange das B des Menschen nicht befriedigt ist, ist er im Unfrieden mit seinen B.en, also mit sich selbst«, erklärt Marx (Randglossen).

Der Eingriff von Marx verknüpft Vorstellungen der Frühsozialisten mit Hegel und verschiebt sie in die Bewegung von Produktion und Konsumtion. Gemäß dem Vorw 59 greift er Hegels »System der B.e« (RPh, §§189ff) nicht nur auf und befreit es von den Schranken einer bloßen »Verstandesendlichkeit« (…), sondern entwickelt ihm gegenüber auch das – beide aufhebende – »System der Arbeiten« (RPh, §189; Gr). Und so ironisch er Karl Grüns Illusion abfertigt, das bloße »Begreifen« des »wahren Wesens« von Produktion/Konsumtion könne deren »an sich« bestehende Einheit wiederherstellen (DI), so unbeirrt geht er dem »rationellen Kern« der Sache nach, um 20 Jahre später zu vermerken, beide seien »unzertrennlich an sich«, jedoch »faktisch im System der kapitalistischen Produktion getrennt«, so daß »ihre Einheit sich durch ihren Gegensatz herstellt« (TM). Mit der Analyse dieses Gegensatzes, seinem Lebenswerk, verarbeitet Marx auch das Echo revolutionärer Erhebungen. In der HF betont er das »Bewusstsein« über die »ungeheure« und »unermeßbare« Kraft, das für die »massenhaften kommunistischen Arbeiter« aus »ihrem Zusammenwirken« entsteht (…). Ihn beeindruckt (wie schon Engels in Manchester), daß sie in den Assoziationen »nicht nur ihre unmittelbaren B.e als Arbeiter, sondern ihre B.e als Menschen« (…) diskutieren: »Brüderlichkeit« sei nicht »Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen« (Ms 44).

Demgemäß zitiert Marx in einem Brief an Feuerbach aus einer fourieristischen Schrift die Passage »l'homme est tout entier dans ses passions«, und er schließt, »Hauptmobil der Natur wie der Gesellschaft« sei »die leidenschaftliche, die nicht reflektierende attraction und tout être […] a reçu une somme des forces en rapport avec sa mission dans l'ordre universel'« (11. Aug. 1844). Fourier gehe »unmittelbar von der Lehre der französischen Materialisten aus […]. Die wissenschaftlicheren französischen Kommunisten, Dézamy, Gay etc.«, entwickelten diese »als die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus« (HF). Das darin Gemeinsame ist die Bejahung der Sinnlichkeit (…). »Physische B.e« verlangen nach d'Holbach »wirkliche Gegenstände«, die »den Hirngespinsten vorzuziehen« sind, »mit denen man […] unseren Geist abgespeist hat« (1770). »Der Hunger ist ein natürliches B«, schreibt Marx in den Ms 44; »er bedarf also einer Natur außer sich, eines Gegenstandes« (…). »Zum Leben«, so das erste Fazit, »gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere« (DI). Auf solche Gegenstände richten sich vorwiegend die von Marx so benannten »empirischen«, »notwendigen«, »physischen«, »dringendsten«, »unmittelbarsten« oder »absolut zu befriedigenden« Natur- und Lebens-B.e. Eng deterministische Auffassungen, wie bei Helvétius (die »einzige Triebkraft des Menschen« ist »physisches Empfindungsvermögen«; 1777) oder d’Holbach (der Mensch als »passives Werkzeug in den Händen der Notwendigkeit«; …), überwinden Marx und Engels schon 1844. Anstöße zu deren Kritik geben u.a. Kontakte zu Dézamy, der »Glück« als freie, »allseitige Entwicklung unseres Wesens, volle Befriedigung all unserer B.e« bestimmt (1842).

Aneignung, Angst/Furcht, Antizipation, Arbeit, Armut/Reichtum, Befriedigung, Bestimmung/Determination, Bewußtheit, falsche Bedürfnisse, Faulheit, Genuss, Glück, Interesse, Kommunismus, Konsumtion, Lebensweise/Lebensbedingungen, Liebe, Phantasie, Produktion, Produktivkräfte, Sexualität, Sinnlichkeit, Überfluss, Unbewusstes

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