Interesse
A: al-maṣlaha. – E: interest. – F: intérêt. – R: interes. – S: interés. – C: lìyì 利益
Hartmut Neuendorff (I.), Jan Rehmann (II.)
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1337-1358
I. Den vielfältigen Verwendungsweisen des I-Begriffs liegt als gemeinsames Moment eine spezifische Gerichtetheit des Handelns zugrunde, in der eine Vermittlung subjektiver Bestimmungsgründe mit objektiven Gegebenheiten als unmittelbares Motiv des Handelns gesetzt ist. Seine Karriere hängt mit der Entwicklung der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zusammen, in der das Handeln der Personen, gesellschaftlichen Gruppen und Klassen vornehmlich aus ihren jeweiligen I.n erklärt wird. Wegen der Vermittlung von Subjektivem und Objektivem im I kann daran sowohl die Seite des subjektiven Entschlusses zum Handeln betont werden als auch die sich aus der Stellung der Personen in den gesellschaftlichen Verhältnissen ergebenden Bestimmungsgründe des Handelns. Die subjektive Seite akzentuieren Marx und Engels, wenn sie dem »reflektierenden Bourgeois« bescheinigen, er schiebe »im I […] immer ein Drittes zwischen sich und seine Lebensäußerung, eine Manier, die wahrhaft klassisch bei Bentham erscheint, dessen Nase erst ein I haben muss, ehe sie sich zum Riechen entschließt« (DI). Die objektive Seite ist einprägsam in Engels’ Zur Wohnungsfrage formuliert: »Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als I.n.« (…)
Marx und Engels nehmen den I-Begriff in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Nationalökonomie auf, die ihre Kategorien in Reflexion der Formen der Zirkulationssphäre entwickelt. Obwohl er in der KrpÖ nicht zu den theoretischen Grundbegriffen gehört, spielt er eine wichtige Rolle, sobald die Analyse von den allgemeinen Kategorien zum Konkreten aufsteigt und die Verbindung von gesellschaftlichen Strukturpositionen und Klassenkämpfen berührt. Grundlegend für den marxistischen Gebrauch ist eine Konzeption der Gesellschaft als eines strukturierten Ganzen von Produktions-, Verkehrs- und Lebensweisen, das einer Gesellschaftsformation seine historisch spezifische Prägung gibt. Statt das Privat-I zu naturalisieren, wird es als gesellschaftliches Phänomen rekonstruiert. Im Unterschied zum Bedürfnis ist I keine anthropologisch universale Kategorie, sondern ein gesellschaftlich-geschichtlicher, auf die ›moderne‹ Gesellschaft bezogener Begriff.
II. K III endet mit einem Hinweis auf »die unendliche Zersplitterung der I.n und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztre z.B. in Weinbergsbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet« (…). An dieser Stelle bricht das Manuskript ab. Damit ist im marxschen Werk eine zentrale Problemstellung der Klassenanalyse sowie ihrer Vermittlung zu Klassenkampf und Bündnispolitik offen gelassen. – Rosa Luxemburg macht einen Unterschied zwischen den »unmittelbaren I.n« (…) der Arbeitenden, die sich auf ihre soziale Lage beziehen, wenn etwa der »technische Fortschritt« den »I.n der direkt dadurch berührten Arbeiter« widerstreitet, und ihren »wirklichen I.n« (…). Der Gegensatz bestimmt die schwierige Dialektik ihrer Politik, nämlich das I der »Arbeiterklasse im Ganzen und ihrer Emanzipation« durchzusetzen (…). – Auf welcher Ebene Prozesse der Vereinheitlichung zu übergreifenden Klassen-I.n bzw. der Fragmentierung zu korporatistischen Gruppen- und Sonder-I.n analysiert werden können, ist in kritischen Gesellschaftstheorien umstritten.
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