Gewalt

A: al-‛unf, al-quwwa. – E: violence, power. – F: violence, pouvoir. – R: nasiliie, vlast’. – S: violencia, poder. – C: baoli, quanli 暴力, 权力

Etienne Balibar (TL)

HKWM 5, 2001, Spalten 693-696 u. 1270-1308

Die Paradoxie im Verhältnis des Marxismus zur Frage der G liegt darin, dass er einen entscheidenden und unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis der ›Rolle der G in der Geschichte‹ geleistet hat – genauer: zur Analyse des Zusammenhangs zwischen den Herrschafts- und Ausbeutungsformen (in erster Linie des Kapitalismus) und den strukturellen Modalitäten der gesellschaftlichen Gewalt, der Notwendigkeit von Klassenkämpfen und der revolutionären Prozesse –, dass er auf diese Weise dazu beigetragen hat, die Bedingungen und Einsätze moderner Politik zu definieren, dass er aber nichtsdestoweniger von Grund auf unfähig war, die ›tragische‹ Beziehung zu denken (und damit in Angriff zu nehmen), die Politik und G in einer selbst wiederum höchst ›gewaltsamen‹ Einheit der Gegensätze innerlich verbindet (vgl. K I) – eine Beziehung, wie sie etwa zu verschiedenen Zeiten in den Werken von Theoretikern wie Thukydides, Niccolo Machiavelli oder Max Weber zutagetritt. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, auf die wir zurückkommen. Einer davon ist das absolute Privileg, das die marxistische Theorie einer bestimmten Herrschaftsform (der Ausbeutung der Arbeit) beilegt, als deren Epiphänomene die anderen erscheinen, was dazu führt, deren jeweils eigenen ›Beitrag‹ zur Ökonomie der G und Grausamkeit zu unterschätzen; ein anderer ist der anthropologische Optimismus im Begriff des ›Fortschritts‹ als Entwicklung der menschheitlichen Produktivkräfte, dem Grundpostulat marxistischer Geschichtsauffassung; der letzte schließlich ist die Metaphysik der Geschichte als einer konkreten Verwirklichung des Prozesses der ›Negation der Negation‹ (oder der Entfremdung und Versöhnung des menschlichen Gattungswesens), die das theologisch-philosophische Schema der Umwandlung von G in Gerechtigkeit auf den Marxismus überträgt.

Die Koexistenz im Denken von Marx und seiner Nachfolger (mit beträchtlichen Unterschieden intellektueller Tiefe) dieser eng miteinander zusammenhängenden Aspekte – des Erkennens der extremen Formen gesellschaftlicher G und des Verkennens des von ihnen gestellten spezifisch politischen Problems – war nicht frei von erschreckenden Konsequenzen in der Geschichte der sozialen Bewegungen und revolutionären Prozesse, die sich offiziell auf den Marxismus beriefen und deren führende oder dissidente Kräfte bei Marx die Instrumentarien ihrer ›Meisterung‹ der Dinge suchten. Im Kontext der kapitalistischen ›Globalisierung‹ und der von ihren Widersprüchen hervorgerufenen Suche nach politischen Alternativen macht sie sich mehr denn je bemerkbar.

Diese konstitutive Beschränkung des Marxismus hat durchaus nicht verhindert, dass seine Geschichte in den letzten beiden Jh. Anlass zu bemerkenswerten intellektuellen Versuchen gab, die Frage der G auszuloten und das, worum es dabei geht, auf den Begriff zu bringen. Im Folgenden soll es nicht um eine erschöpfende enzyklopädische Darstellung der marxschen und marxistischen Aussagen zur G gehen, sondern um den Versuch, einige der markantesten Texte und Episoden zu analysieren, in denen die so gestellte Frage deutlich wird.

Zu Beginn geht es um die Relektüre und Diskussion eines Textes, der sich als Darstellung einer ›klassischen‹ Lehre des Marxismus zur G-Frage ansehen lässt: Engels’ postum veröffentlichte Broschüre Die Rolle der Gewalt in der Geschichte (1895). Trotz seines unabgeschlossenen Charakters, auf den zurückzukommen ist, übertrifft dieser Text in seiner Kohärenz und theoretischen Präzision die meisten anderen herangezogenen Stellen – auch bei Marx. Es kann also kein Zufall sein, wenn er einige der – politischen wie philosophischen – Grundprobleme aufwirft, die der marxistische Ansatz stellt, und wenn er deshalb verschiedentlich Anlass zu einer noch immer maßgeblichen Diskussion und Kritik gegeben hat. Was nicht daran hindert, dass es sich in bestimmter Hinsicht um eine Vereinfachung, in anderer Hinsicht um eine Korrektur marxscher Formulierungen handelt.

Absterben des Staates, Anarchismus, Anarchosyndikalismus, Arbeit, Aufstand, Befreiung, Bonapartismus, Bürgerkrieg, Despotie des Kapitals, despotischer Sozialismus, Destruktivkräfte, Diktatur des Proletariats, Ende der Geschichte, Endlösung, Exterminismus, Extremismus, Fanonismus, Fidelismus, Folter, Französische Revolution, Gandhismus, Generalstreik, Genozid, gerechter Krieg, Gesamtarbeiter, Gewaltenteilung, Gewaltmärkte, Gramscismus, Guerilla, Guevarismus, GULag, Halbstaat, Holokaust, Jakobinismus, Kalter Krieg, Kampf, Klassenkampf, Krieg und Frieden, Kriegskommunismus, Linksradikalismus, Machiavellismus, Macht, Maoismus, Marxismus Lenins, Maschinenstürmer, Massenstreik, Militarismus, Militärputsch, Neue Ökonomische Politik, Nihilismus, Objektivismus, Operaismus, Opfer, Pogrom, Pol-Potismus, Putsch, Radikalität, Revolution, Sorelismus, Staatsstreich, Staatsterrorismus, Subjektivismus, Tyrannei, ungleicher Tausch, Unrecht, Unterdrückung, Unterwerfung, ursprüngliche Akkumulation, Verbrechen, Vergewaltigung, Volkskrieg, Voluntarismus, Widerstand, Widerstandsrecht, wilder Kapitalismus, Willkür, Zerstörung, Zwang

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