Idealismus/Materialismus
A: al-mitālīya/al-mādīya. – E: idealism/materialism. – F: idéalisme/matérialisme. – R: idealizm/materializm. – S: idealismo/materialismo. – C: weixin zhuyi/weiwu zhuyi 唯心主义 / 唯物主义
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 6/I, 2004, Spalten 607-621
Den Kern des als ›I‹ vorgestellten Denkens, der in seiner »spekulativen Form nichts anderes als ein bloßer philosophischer Roman ist« (Gramsci, Gef), hat Engels fünf Jahre nach dem Tode von Marx schulbildend erzählt: »Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen – und diese Schöpfung ist oft bei den Philosophen, z.B. bei Hegel, noch weit verzwickter und unmöglicher als im Christentum –, bildeten das Lager des I. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des M«. (LF) Verbinde man etwas anderes mit dem Begriffspaar, entstehe »Verwirrung« (…).
Die Geschichte hat für diese Verwirrung gesorgt. Eine Generation nach Engels fungierte ›I‹ als Schlagwort, das »die dem M entgegengesetzte Grundrichtung der Philosophie« (PhWb, I) und eine ständig lauernde Abweichungsgefahr benennt. Hatte ›M‹ traditionell als »ideologischer Bezichtigungsbegriff« und »Bezeichnung eines Feindbildes« fungiert (Sandkühler, EE 3), so ging es nun seitenverkehrt mit dem ›I‹ nicht anders – nur dass dieser Verdacht sich nicht zuletzt gegen innermarxistische ›Abweichungen‹ richtete. Lenin hat Engels’ Rede von den zwei »Lagern« der Philosophen zur These verfestigt, die unter Stalin in den Rang eines Axioms erhoben wird. Der philosophierende ML definiert sich fortan über die ›materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie‹ (vgl. etwa Eichhorn 1973), der Frage, ob dem Materiellen oder dem Ideellen der Primat zukomme. Das etabliert ein Spiegelverhältnis zweier Negationen: I gilt v.a. als Nicht-M, M als Nicht-I. Doch die voluntaristische Proklamation eines M als Anti-I ist hinterrücks von einer Dialektik eingeholt worden, die ihn als tatsächlichen ›I der Materie‹ gestempelt hat. »Prinzipiell bleibt nicht das als prinzipiell Gesetzte, sondern der Akt des Setzens. Die setzende Instanz hat hier offenkundig zu bestimmen. Sie ist entscheidende Instanz. Was immer sie will, sie will es, und sie beansprucht, das Sagen zu haben« (Haug 1978).
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