Enteignung
A: naza‛u milikīya. – E: expropriation. – F: expropriation. – R: ėkspropriacia. – S: expropiación. – C: boduo, moshuo 剥夺, 没收
Marcel van der Linden (I.), Jürgen Becher (II.), Ulrich Weiss (III.)
HKWM 3, 1997, Spalten 444-460
I. E – die Entziehung bestehenden Eigentums an einer Sache oder sonstiger Vermögensrechte als einseitiger Akt – begleitet nach Marx und Engels die Entwicklung des Kapitalismus von Anfang bis Ende. In ihren Werken wird der Begriff der E bzw. »Expropriation« in vier verschiedenen Zusammenhängen erörtert.
E der unmittelbaren Produzenten. – Bereits die sogenannte ursprüngliche Akkumulation war eigentlich eine »ursprüngliche Expropriation«, resultierend in »einer Auflösung der ursprünglichen Einheit zwischen dem Arbeitenden und seinen Arbeitsmitteln« (…) […] Es handelte sich dabei um die Verwandlung von »feudalem Grundeigentum, Claneigentum oder kleinem Bauerneigentum« in eine dem Kapitalismus entsprechende Form (…).
E der Kapitalisten durch Kapitalisten. – Als die kapitalistische Produktionsweise erst einmal auf eignen Füßen stand, fing – »in Wechselwirkung« mit der parallel weiter fortschreitenden E der unmittelbaren Produzenten (…) – die E der Kapitalisten durch Kapitalisten an. »Diese Expropriation vollzieht sich durch […] die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot.« (K I)
E der Kapitalisten und Großgrundbesitzer durch den bürgerlichen Staat. – Die fortschreitende Vergesellschaftung der Produktions- und Verkehrsmittel macht Staatsintervention unerlässlich.
E der Kapitalisten und Großgrundbesitzer durch die Arbeiterklasse. – Bereits im Manifest heißt es, dass das Proletariat nach seiner Erhebung zur herrschenden Klasse seine politische Macht dazu benutzen wird, »der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen«. Dazu sind »despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht« unerlässlich (…).
II. E-Formeln im bürgerlichen deutschen Verfassungsrecht. – Im Ringen um die Konsolidierung demokratisch-rechtsstaatlichen Denkens und gegen den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen, z.B. des Mieterschutzes, spielt die verfassungsrechtlich gegebene Möglichkeit der E zum Wohle der Allgemeinheit eine bedeutende Rolle. Erstmals wurde die Sozialbindung des Eigentums in die Weimarer Reichsverfassung aufgenommen (vgl. Art. 153 Abs. 1). Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) enthält in Art. 15 die Möglichkeit, die Produktionsmittel zu sozialisieren, und in Art. 14 Abs. 1 das Recht der Legislative, den Eigentumsbegriff durch einfaches Gesetz dieser Aufgabenstellung entsprechend umzudefinieren, sowie die Befugnis, die Ökonomie planwirtschaftlich zu gestalten.
III. E.en im Staatssozialismus. – Nach dem staatssozialistischen Konzept begründet die Zentralisierung des Eigentums an Produktionsmitteln in den Händen des ›sozialistischen‹ Staates sozialistisches Eigentum. Dies wird u.a. aus dem marxschen Gedanken gefolgert: »Wenn sie den Kapitalisten fortnehmen, nehmen sie den Arbeitsbedingungen den Charakter, Kapital zu sein«. (TM) Durch dieses Fortnehmen zugunsten des Staatseigentums sowie durch eine funktionierende staatliche Wirtschaftsleitung werden nach dem ML »Produzent und Eigentümer identisch«, gibt »es keine Klasse mehr, die sich ohne Äquivalent die Ergebnisse der Arbeit anderer aneignen kann.«
Der ML-Theoretiker und DDR-Staatsfunktionär Fritz Behrens stellt in den 1970er Jahren die staatssozialistischen E.en als Weg zum Sozialismus in Frage […]: Der Staat kann »nie und nimmer das Hauptinstrument bei der Schaffung sozialistischer Produktions- und anderer gesellschaftlicher Verhältnisse sein«, die Produzenten bleiben Lohnarbeiter, »so sehr ihre Knechtschaftsverhältnisse auch durch Mitbestimmung und Mitverantwortung verschleiert« werden (1992).
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