Experiment

A: taǧruba. – E: experiment. – F: expérience, test. – R: ėksperiment. – S: experimento. – C: shiyan 实验

Wal A. Suchting (TL)

HKWM 3, 1997, Spalten 1153-1167

»Unzweifelhaft scheidet die Durchsetzung der experimentellen Methode zwei Welten der Geschichte voneinander, zwei Epochen, und leitet den Prozess […] der Entwicklung des modernen Denkens ein, das seine Krönung in der Philosophie der Praxis findet«, heißt es bei Gramsci (Gef 6, H. 11).

Im Kontext der Geschichte marxistischen Denkens liest sich diese Bemerkung höchst eigentümlich. Marx selbst hat zur Frage des E, direkt jedenfalls, wenig zu sagen. Der Grund dürfte darin liegen, dass er den Naturwissenschaften zwar lebhaftes Interesse entgegenbrachte, sein Hauptwerk aber der KrpÖ galt, und »bei der Analyse der ökonomischen Formen kann weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien« (K I; Brockmeier/Rohbeck 1981). Engels hat die Naturwissenschaften weit intensiver und auch systematisch studiert, ebenso wie epistemologische und andere damit verbundene Fragen, und obwohl die Frage des E da und dort explizit auftaucht, ist ein Zusammenhang mit den Feststellungen Gramscis nicht unmittelbar ersichtlich. Daneben hat von den späteren – und historisch bedeutsamen – Autoren in der Tradition von Marx nur Lukács das Denken von Engels zum E detailliert behandelt und kritisiert, dass es kein wirkliches Verständnis der wirklichen »Praxis« zeigt (GuK). Ein Indiz, dass die Frage nach wie vor vernachlässigt wird, ist das Fehlen eines entsprechenden Stichworts sowohl im KWM wie im DMT.

Bei allgemeinerer Betrachtung des Gegenstands wird man wohl überrascht sein, dass das E zwar in der Tat in den Wissenschaften ab dem 15. Jh. eine zunehmend zentrale Rolle zu spielen begann (vgl. z.B. Crombie 1994, Kap. III) und von Francis Bacon und einigen wenigen Zeitgenossen gefeiert wurde, aber kaum Anerkennung fand im philosophischen Mainstream bis Kant, der in der Vorrede zur 2. KrV (1787) schrieb, dass mit den E.en von Galilei und anderen »allen Naturforschern ein Licht aufging« (B XIII). Doch blieb diese Proklamation weitgehend folgenlos für das 19. Jh., als sich das Interesse – mit der bemerkenswerten Ausnahme von Claude Bernard (1865) – hauptsächlich (z.B. bei J.S. Mill) auf seine Rolle in der Logik des induktiven Schlusses konzentrierte (vgl. Lalande 1929). Zu Beginn unseres Jh. fand das E gelegentlich Beachtung (z.B. Mach 1917, Duhem 1914), doch schrieb ihm allein Dewey (1929) – und in geringerem Maße Dingler (1928) – eine herausragende Bedeutung zu. Danach verschwand das Thema praktisch für mehr als fünfzig Jahre von der Bildfläche (zu den Ausnahmen gehören Lewin 1927, Fleck 1935, Holzkamp 1963, 1968). Ian Hacking konnte daher schreiben: »philosophers of science […] say almost nothing about experiment« (1983). Doch erwies sich gerade das soeben zitierte Buch als der erste wichtige Beitrag zu einem anschwellenden »Mainstream« von oftmals ausgezeichneter Literatur zum E (siehe z.B. Batens/Bendegam 1988; Crease 1993; Franklin 1986, 1990; Fraunberger/Teichmann 1984; Galison 1987; Gooding u.a. 1989, 1990; Krieger 1992; Legrand 1990; Radder 1988; Rheinberger 1992; Tetens 1987).

Im Folgenden wird versucht, das Denken von Marx und Engels zu dieser Frage in seinen Grundzügen freizulegen, indem Gramscis eingangs zitierte These in ihren Implikationen entfaltet wird. Der Akzent liegt dabei auf dem »klassischen physikalischen E«. Andere Typen des E werden gestreift (so das Gedanken-E und solche, die Artefakte des E selbst erforschen), bleiben jedoch von der marxistischen Epistemologie zu erforschen, ebenso wie u.a. eine Gruppe sehr verschiedener Typen von »E.en«, die wesentlich mit den modernen Computern verbunden sind und die mathematische Zahlentheorie und den Umgang mit der Simulation komplexer Systeme implizieren.

allgemeine Arbeit, Analyse/Synthese, Anatomie, anschauender Materialismus, Brecht-Linie, Camera obscura, Determinismus, eingreifendes Denken, eingreifende Sozialforschung, Empirie/Theorie, Epistemologie, Erfahrung, Erkenntnistheorie, Ewigkeit, Falsifikationismus, Feuerbach-Thesen, Gesetz (soziales), Idealismus/Materialismus, Indeterminismus, Metaphysik, Naturbeherrschung, Naturverhältnisse (gesellschaftliche), Objektivität, Praxis, Philosophie der Praxis, Spekulation, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie, Zellenform

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