Lassalleanismus

A: lāsālīya. – E: Lasalleanism. – F: lassalisme. - R: lassal’janstvo. – S: lasalleanismo. - C: lasa’erzhuyi 拉萨尔主义

Montserrat Galceran, Wolfram Adolphi

HKWM 8/I, 2012, Spalten 715-735

L bezeichnet eine auf die programmatischen Ansichten von Ferdinand Lassalle (1825-64) gegründete theoretische und politische Strömung innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, die bei der Lösung der sozialen Frage auf den – vorgefundenen, in seinem Handeln durch allgemeine und direkte Wahlen veränderbaren – Staat setzt. Lassalle hatte dem Staat bes. die Aufgabe zugedacht, die Bildung von »Produktivassoziationen der Arbeiter« mittels Krediten in solchem die gesamte Wirtschaft bestimmenden Umfang zu fördern, dass sie im Gegensatz zu den in ›freier Konkurrenz‹ wirtschaftenden kapitalistischen Unternehmen die Arbeiter in den Genuss des ›vollständigen Arbeitsertrags‹ zu bringen vermögen. Später wird L zum Synonym für ›Staatsgläubigkeit‹ überhaupt, auch für ›Reformismus‹ und ›Etatismus‹.

In der Geschichte der Arbeiterbewegung sind die Ausprägung des L und die Auseinandersetzung mit ihm ein frühes Beispiel dafür, wie theoretische und programmatische Positionen einer Persönlichkeit in machtpolitischem Interesse zu einem von ihrer Quelle sich allmählich ablösenden und dabei erstarrenden und verengenden ›Ismus‹ geformt und instrumentalisiert werden. – Für Marx und Engels, die ihren langjährigen Mitstreiter Lassalle »politisch« als »einen der bedeutendsten Kerle in Deutschland« (Engels an Marx, 4.9.1864) und »von der vieille souche« (vom alten Stamm) kommenden »Feind unserer Feinde« (Marx an Engels, 7.9.1864) schätzten, wurde die Auseinandersetzung mit dem L, der sich ihnen als »Lassallescher Dreck« (Marx an Engels, 13.2.1865) darstellte, den sie in scharfem Gegensatz zu ihrem Credo, wonach »die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein [muss]« (Zirkularbrief, 17./18.9.1879), stehen sahen, zu einem zentralen Feld des Ringens um die Programmatik der Arbeiterbewegung überhaupt. Marx’ Kritik des Gothaer Programms (1875) zieht ihre Schlüssigkeit nicht zuletzt aus der vom L ausgehenden Herausforderung. Dass Rosa Luxemburg in Lassalle neben Marx und Engels einen der »drei großen Meister, deren historisches Werk nicht voneinander zu trennen ist« (GW 3), sehen konnte, hat seinen Grund nicht nur in den vielfältigen theoretischen Arbeiten, mit denen er in den 1850er und 60er Jahren hervortrat, sondern mehr noch darin, mit welchem Erfolg er als Organisator der Arbeiterbewegung wirkte. Mit dem 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) »rief Lassalle – und dies bleibt sein unsterbliches Verdienst – die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland« (Marx an Schweitzer, 13.10.1868); wegen ihrer »populären Sprache« waren seine Arbeiten »zehnfach, zwanzigfach mehr als irgendeine andere sozialistische Schrift in Deutschland verbreitet« und vermochten so zur »Grundlage der sozialistischen Anschauung der Massen« zu werden (Bebel an Engels 1873/1965).

Die Schärfe, mit der Marx und Engels und dann auch August Bebel, Wilhelm Liebknecht u.a. die Auseinandersetzung mit dem L führten, gründete sich neben den programmatischen Unterschieden auch auf das Parteiverständnis. »Lassalle«, resümierte sein langjähriger Mitstreiter Julius Vahlteich, hatte die Organisation des ADAV »auf seinen Leib zugeschnitten«, »dem Präsidenten eine Art diktatorischer Gewalt gegeben« (1904); nach seinem – in einem Eifersuchtsduell erlittenen – frühen Tod entwickelten seine Nachfolger einen »speichelleckenden Lassallekultus« (Marx an Kugelmann, 23.2.1865), von dem Bebel überzeugt war, dass er »ausgerottet« werden müsse (an Engels 1873/1965). Im L waren Lassalles Positionen zum »Dogma« geworden, »über welches die ›Lassalleaner‹ in ihrem Denken nicht hinauskamen« (Vahlteich 1904). Trotzdem – und unabhängig davon, ob jeweils auf den Begriff des L gebracht – blieben Grundpositionen Lassalles, die den L ausmachen, auch im 20. Jh. Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung, und am Beginn des 21. Jh. setzt sich der Streit um die Veränderbarkeit des Staates durch Wahlen und um das revolutionäre Wesen der Arbeiterklasse weiter fort.

Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Befreiung, Bewegung, bürgerliche Revolution, Charisma/charismatische Führung, Demokratie, Demokratie/Diktatur des Proletariats, demokratischer Sozialismus, ehernes Lohngesetz, Genossenschaft, Grundrechte, Grundwiderspruch/Haupt-/Nebenwiderspruch, Hegemonie, herrschende Klasse, historische Mission der Arbeiterklasse, internationalistische Bewegung, Kaderpartei, Klassenherrschaft, Klassenkampf, klassenlose Gesellschaft, nationaler Weg zum Sozialismus, Parlamentarismus, Parteien, progressive Demokratie, proletarische Revolution, Reformismus, Revisionismusstreit, Revolution, Sozialdemokratie, sozialdemokratische Programme, Sozialismus, Staat, utopischer Sozialismus, Wahlen

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l/lassalleanismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 17:29 von christian     Nach oben
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