nationaler Weg zum Sozialismus

A: ṭarīq waṭanī naḥw al-ištirākīya. – E: national road to socialism. – F: voie nationale vers le socialisme. – R: nacional’nyj put’ k socializmu. – S: vía nacional al socialismo. – C: tōngxiàng shèhuìzhǔyì de mínzú dàolù 通向社会主义的民族道路

Werner Schmidt (I.), Lutz Brangsch (II.), Thomas Heberer (III.)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1906-1946

Wenn im Marxismus von einem »nationalen Weg zum Sozialismus« gesprochen wird, geht es in abstrakt-theoretischer Hinsicht um die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem und praktisch um die auf je spezifische Bedingungen und Besonderheiten abgestimmte Wahl der Strategie im Kampf gegen den Kapitalismus bzw. für die Transformation zum Sozialismus. Das emanzipatorische Anliegen des Marxismus gilt grundsätzlich nicht den Sonderinteressen von Nationen, sondern dem internationalen Kampf für die Überwindung von Kapitalismus und Ausbeutung. Die je konkreten Kampfformen und die theoretischen Weg- und Zielvorstellungen sind ein Streitfeld innerhalb und zwischen sozialistischen Parteien und Bewegungen und nach dem Zweiten Weltkrieg auch sozialistischen Staaten.

Das Nationale ist oft gegen ein feindliches ›Außen‹, zunächst der feudalen Umwelt, später anderer kapitalistischer Staaten und Nationen gerichtet, wirkt aber auch im Innern der jeweiligen Gesellschaft, indem es das ›Oben‹ und ›Unten‹ der Klassen- und Herrschaftsverhältnisse durch ein Bewusstsein des ›Miteinanders‹ aufgrund gemeinsamer Herkunft überdeckt. Je nach der geschichtlichen Situation im Innern und im internationalen Umfeld sind nationale Bindungen geeignet, als Trieb- oder Gegenkraft revolutionärer Bewegungen, als Hindernis oder auch als Ferment progressiv emanzipatorischer Bewegungen zu fungieren.

Bei der Wegbestimmung geht es darum, auf welchen ökonomischen und sozialen Grundlagen im betreffenden Land ein Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich ist und mit welchen Mitteln er verwirklicht werden soll. Ob das durch Machteroberung und revolutionäre Staatsgewalt ›von oben‹ oder auf dem Wege emanzipatorisch-demokratischer Umgestaltung ›von unten‹ geschieht, ist entscheidend sowohl für den Charakter des Kampfs gegen den Kapitalismus als auch für den der nachrevolutionären Gesellschaft, wobei – wie das Verhältnis zwischen der SU und anderen Parteien und Staaten ihres Einflussgebiets zeigt – in beiden Fällen die Berufung auf das National-Besondere wichtig werden kann: als Geltungsanspruch eines allgemeingültigen Wegs für alle wie auch als Legitimation eines Sonderwegs.

Da der Sozialismus sich immer nur in harten Auseinandersetzungen mit starken Gegenkräften realisieren lässt, sind beide Wege – der ›von oben‹ und der ›von unten‹ – nicht als sich ausschließende Alternativen zu betrachten. Einerseits ist demokratische Emanzipation ohne gegen äußere und innere Feinde erkämpfte und behauptete politische Macht zum Scheitern verurteilt, wie das Beispiel der Unidad Popular in Chile zeigt. Andererseits garantiert ein erfolgreicher Kampf gegen die Konterrevolution keine emanzipatorische sozialistische Entwicklung, wenn die neue Ordnung wie in der SU nach dem Sieg der Revolution vorwiegend als befehlsadministratives System gestaltet wird. Entscheidend ist, ob und wie es gelingt, das emanzipatorische Kernanliegen der Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung mit einer neuen Produktions- und Lebensweise zu verbinden, die den Kapitalismus auch als Triebkraft der ökonomischen Entwicklung überwindet.

Nach dem Ende des Staatssozialismus in Europa ist die Problematik mit der hochtechnologischen Produktionsweise des (wieder) global dominierenden Kapitalismus in neuartiger Weise offen. Das gilt für die mögliche Verwirklichung des Sozialismus ebenso wie für das Nationale als Rahmen und Kampffeld emanzipatorischer Bewegungen, aber auch für die Frage, wie sich sozialistische Entwicklungswege, die sich über die Epochenwende von 1989/91 hinweg behaupten konnten wie in Vietnam oder Kuba, weiter gestalten. Das Präzedenzlose, in keine der bisherigen ›Großerzählungen‹ passende Neue dieser Situation wird am Beispiel Chinas deutlich, dessen Aufstieg zu einer neben den USA zentralen Macht im kapitalistischen Weltsystem sich erklärtermaßen unter der Herrschaft einer Kommunistischen Partei auf einem national begründeten Pfad der Synthese von Sozialismus und Marktwirtschaft vollzieht.

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n/nationaler_weg_zum_sozialismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 19:34 von christian     Nach oben
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