Faschismus
A: al-fāšīya. – E: fascism. – F: fascisme. – R: fašizm. – S: fascismo. – C: faxisi zhuyi
Carlos Figueroa Ibarra (HL)
HKWM 4, 1999, Spalten 147-165
Der Ursprung des Worts liegt im lateinischen fascis, italienisch fascio, was Bund oder Bündel bedeutet. Die fasces waren die Insignien, die die Liktoren in Begleitung der römischen Magistratsmitglieder trugen. Sie bestanden aus einem Bündel von Ruten, die mit einer Kordel um ein Beil gebunden waren. Die Ruten standen für die Befugnis, körperlich zu züchtigen, das Beil für das Recht der Todesstrafe. Als Benito Mussolini 1919 in Mailand die Fasci di combattimento gründete, dachten er und die wenigen Dutzend seiner Anhänger gewiss nicht nur an eiserne Einheit, sondern auch an das Repressions- und Vergeltungssymbol, das die fasces in der römischen Antike waren.
Angelo Tasca schrieb Mitte der dreißiger Jahre, der F sei »eine Diktatur« (1936), aber dies sei wohl das Einzige, worin alle, die sich an Definitionsversuche machten, übereinstimmten. Tasca selbst sprach sich für eine erweiterte Definition aus, die nichts anderes hieß, als die Geschichte des F zu schreiben. Jahrzehnte nach der Niederlage des F hielt der Streit über sein Wesen ebenso an wie der über die Frage, ob er über das Europa der Zwischenkriegszeit hinaus Gültigkeit hat.
Es zeigte sich, dass der Begriff sofort zweideutig und schillernd wird, sobald man sich an seine sozialwissenschaftliche Analyse macht. Stanley G. Payne (1980) listet zwölf verschiedene Konzeptionen auf: 1. als gewaltsame Diktatur des Finanzkapitals (z.B. Gyula Sas 1923 und Clara Zetkin 1923), eine Definition, die die KI später übernahm; 2. als Bonapartismus des 20. Jh. (Thalheimer 1930); 3. als Radikalismus des Kleinbürgertums bzw. der Mittelschichten (Salvatorelli 1923; Lipset 1959); 4. als spezifisches Phänomen für Italien und Deutschland (u.a. Mack Smith 1959); 5. als Ausdruck einer moralischen, geistigen, im weiten Sinne kulturellen Krise (Croce 1925; Meinecke 1930; De Felice hat 1975 in Il fascismo eine Synthese ihrer Positionen formuliert); 6. als revolutionäres Phänomen, das darauf abzielte, eine neue Ordnung zu inaugurieren (Nolte 1963); 7. als sozialpsychologisches Phänomen pathologischen Charakters (Reich 1933; Fromm 1941; Adorno 1950); 8. als Resultat des Agierens amorpher Massen (Parsons 1949; Arendt 1951; Kornhauser 1959); 9. als Totalitarismus des 20. Jh. (Friedrich/Brzezinski 1957); 10. als Widerstand gegen die Modernisierung (Turner 1972); 11. als Folge einer bestimmten Phase sozioökonomischen Wachstums (Organski 1965); und 12. als nationalspezifisches Phänomen bei Inexistenz eines allgemeinen F (Allardyce 1979). Hinzuzufügen ist, dass der F auch als Modernisierungsregime angesehen wurde (z.B. Organski 1968); v.a. im deutschen Fall kann sich diese Auffassung auf die vom NS betriebene nachhaltige Durchsetzung fordistischer Industrialisierung stützen.
Die Vielfalt der Definitionen ist (außer den Positionsunterschieden der Theoretiker) der gesellschaftlichen und ideologischen Mehrdeutigkeit des F geschuldet. In Bezug auf seine soziale Zusammensetzung ist meist auf die Unterstützung des Kleinbürgertums und der Mittelschichten für den Partito Nazionale Fascista (PNF) und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) hingewiesen worden. Jedoch haben einige Autoren (Woolf 1968) davor gewarnt, diese Zusammensetzung zu verabsolutieren, da sie für die industrialisierten Länder zutreffend sei, nicht aber für die rückständigen und agrarisch geprägten.
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