Faszination
A: siḥr, insiḥār, iftitān. – E: fascination. – F: fascination. – R: očarovanie. – S: fascinación. – C: meili
Christoph Türcke
HKWM 4, 1999, Spalten 186-193
Von lat. fascinum, I. »Beschreiung, Behexung«, II. Phallus, als Gegenzauber-Amulett (Georges); fascinatio steht für einen magischen Vorgang: jemanden in den Bann einer Übermacht schlagen, ihm seine eigenen Kräfte rauben, ihn wehrlos ausliefern. Ein mythisches Urbild solcher F ist das Haupt der Medusa: Wer ihr grässlich starrendes Antlitz ansieht, erstarrt selbst. Perseus kann ihr das Haupt nur abschlagen, während sie schläft und indem er ausschließlich ihr Spiegelbild im Erz seines Schildes ansieht (Ovid, Metamorphosen, IV). Die Erbeutung des Haupts der Medusa ist ein archaisches Lehrstück der Emanzipation. Man muss nicht nur die Übermacht überlisten, sondern auch das eigene Affiziertsein von ihr. Übermacht, Gewalt, Herrschaft drücken sich nicht nur von außen auf; sie finden in den Unterdrückten einen Resonanzboden. Jede Herrschaftstheorie, die diesen unterschätzt, greift zu kurz. »Das Hinstarren aufs Unheil hat etwas von F. Damit aber etwas vom geheimen Einverständnis«, schreiben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947); der Kontext handelt nicht zufällig vom Faschismus. Dessen Name deutet auf den Primat der Gewalt, ist er doch vom Liktorenbündel hergeleitet, in dem die Gewaltmittel Ruten und Beil mit dem Riemen umschnürt sind, der zur äußeren Fesselung dient. Doch zumal in Italien und Deutschland strahlte der Faschismus eine F aus, die seinen Gewaltpraxen erst zum Erfolg verhalf. »Auch F ist ›Fesselung‹, die von ›inneren Zwangsmitteln‹ (Sombart) ausgeht. Aber das eigentlich Beunruhigende ist das Hinüberschillern der äußeren in die inneren Zwangsmittel, ist die Fesselung im Doppelsinn von Gewalt und innerer Bindung.« (W.F.Haug 1986) Wie in Lessings Fabel die gebündelten Stäbe nicht zu brechen sind, sondern erst alle einzeln, nachdem das Bündel aufgeschnürt ist, so auch im Umgang mit der faschistischen F: »Analyse einer F kann ihre Auflösung sein.« (…)
Eine Schlüsselfigur moderner F-Theorie ist Rudolf Otto: als Autor wie als Fall. Sein Hauptwerk, Das Heilige (1917), ist insofern eine Pionierleistung, als es die archaische Tiefenschicht der F sowohl religionsgeschichtlich als auch psychologisch aufrührt.
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