Fiktion

A: ḫayāl, wahm. – E: fiction. – F: fiction. – R: fikcija. – S: ficción. – C: xu gon

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 4, 1999, Spalten 427-448

Von lat. fictio (fingo), »das Bilden, Formen« – das Bedeutungsspektrum reicht von Gestaltung über Erdichtung bis Verstellung. Im modernen Sprachgebrauch verengt sich die Bedeutung v.a. aufs Feld der Literatur, daneben auf funktionale kontrafaktische Annahmen in Philosophie, Soziologie und Jurisprudenz, ferner auf manipulative Täuschung; im Englischen liegt der Akzent außer auf dem ›Erfinden‹ stärker auf Vortäuschen oder Fälschen, F bezeichnet hier »feigning, invention; thing feigned or invented, invented statement or narrative; literature consisting of such narrative«, »conventionally accepted falsehood (esp. legal, polite)«; fictitious wird umschrieben als »counterfeit, not genuine; (of name or character) assumed; imaginary, unreal« (Oxford Dict. Concise).

Zur F gehört ein negativer Bezug auf faktische Wirklichkeit. Handelt es sich bei der F um Sätze, nennt man sie, wie Blaise Pascal schreibt, »je nach ihrem Werte, bald eine ›Vision‹, bald eine ›Laune‹, zuweilen ein ›Phantasieprodukt‹, manchmal eine ›Idee‹ und höchstens einen ›schönen Gedanken‹« (Brief an Père Noël, 29.10.1647). Wenn daher F.en Erfindungen sind, so doch nicht alle Erfindungen F.en.

F.en können mithin ausgemalte, ausgedachte oder vorgemachte Dinge und Geschehnisse sein. Ihre Effekte bewegen sich zwischen Unterhaltung, Illusion und Täuschung. Als bewusst hervorgebrachte sind F.en Geschöpfe der Erfindungs- und Einbildungskraft, als unbewusst solche des Traums oder der Halluzination. Das Verlangen nach Wunscherfüllung befriedigt sich selbst in Phantasien, die Realitätselemente bestimmten Wünschen so anpassen und reale Kräfteverhältnisse imaginär überspringen. In antagonistischen Verhältnissen ruft dieses Verlangen Lug und Trug auf den Plan. Hochstapler, Lügenbaron und Wunderdoktor gehören zu den Akteuren gesteigerter F, Jägerlatein und Aufschneiderei zu ihren Alltagsfiguren. Lügenmärchen tragen das Fiktive als solches faustdick zur Schau und gewähren Genuss in Gestalt der Reflexion aufs Unwahre.

Angesiedelt zwischen Lüge und Kunst, ist F traditionell etwas ›Gefährliches‹, das reguliert werden muss, sowohl nach der Seite der Wahrheit wie nach der Seite der kulturellen Normen. F kann lebenspraktisch missbraucht werden: wer die Gefahr fingiert hat, um die andern hereinzulegen, dem eilt niemand mehr zu Hilfe, wenn er wirklich in Gefahr ist. In der Kunst ist die Unwirklichkeit des Fingierten im Unterschied zur Lüge in der Vorstellungsweise manifest.

Das 20. Jh. bringt mit der technischen Perfektion der F im audiovisuellen Medium das von Horkheimer und Adorno (1944/47) registrierte Umschlagen von Aufklärung in Massenbetrug (…); eine damit einhergehende ästhetische ›Deregulierung‹ koppelt die F von Wirklichkeit und Wahrheit ab; bisweilen wird dann diese, im postmodernen Anschluss an Nietzsche, zum Geschöpf der F erklärt. Solcher Fiktionalismus findet aber zumindest an sich selbst eine Grenze. Wenn die Künste der F eine parnassische Residenz verschafft haben, so bedarf es auch zur alltäglichen F einer gewissen Kunst. Man weiß ja, wie Gramsci sagt, dass sich der Intelligente dumm, der Dumme aber nicht intelligent stellen kann (»se un uomo intelligente può fingersi sciocco, uno sciocco non può fingersi intelligente«; Gef, H. 23). In dem Maße, in dem das Fingieren ein Können ist, lässt es sich nicht fingieren. Aber die Rezipienten kommen der F durch Ergänzungshandlungen entgegen, wie die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern, eine F über F, es zeigt.

Abbild, Antagonismus, ästhetische Abstraktion, Begriff, Bewußtsein, Bild, bildende Kunst, Ebene, Empirie/Theorie, Epistemologie, Erkenntnis, Erkenntnistheorie, Erscheinung, Ethik, Experiment, Fabel, Fakten, Feuerbach-Thesen, Fiktionalismus, Fiktionen im Recht, fiktives Kapital, fiktive Waren, Form, Gefühle/Emotionen, Historisches/Logisches, Idealtypus, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Katharsis, Kontingenz, Kritik der politischen Ökonomie, Kunstverhältnisse, Lachen, logische Methode, Lorianismus, Lüge, Mythos, Oberfläche, Objektivismus, Personifikation, Phänomenologie, Philosophie der Praxis, Realismus, Recht, Rhetorik, Schein, Tuismus, Wahrheit, Wertgesetz, Wirklichkeit

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