Luxemburgismus
A: lūksimburġīya. – E: Luxemburgism. – F: luxemburgisme. – R: ljuksemburgianstvo. – S: luxemburguismo. – C: Lúsēnbǎo zhǔyì 卢森堡主义
Holger Politt (I.), Manfred Grieger (II.)
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1393-1416
Unter den ›Ismen‹ der revolutionären kommunistischen und Arbeiterbewegung des 20. Jh. hat der L deshalb ein besonderes Gewicht, weil er von seinen Schöpfern von vornherein pejorativ gemeint war und – wie dann noch stärker der Trotzkismus – als Inkarnation der ›Abweichung‹ vom Leninismus bzw. Marxismus-Leninismus schlechthin konstruiert und zum Feindbild aufgebaut worden ist. In dieser vom ML geprägten und nicht zu trennenden Gestalt konnte er daher nicht in einen konstruktiven Bezug zu Leben und Werk von Rosa Luxemburg (1871- 1919) gesetzt werden; die Aneignung der Arbeiten und der revolutionären Praxis Luxemburgs ist Ausbruch aus diesem Feindbild.
Zum ›Beweis‹ für das ›Abweichende‹ des L vom ML diente eine »Notiz« Lenins von 1922, in der dieser Luxemburg zwar als »Adler« rühmt, aber in Anspielung auf eine Fabel Iwan Krylows zugleich meint, dessen »Flug« habe ihn zuweilen »niedriger« getragen »als Hühner fliegen« (LW 33, 195). Als Beispiele dafür gelten ihm: »Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u.a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst nach der Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte)« (ebd.). Da sie dennoch als »Adler« galt, konnte sie, wenn politisch opportun, als bekannte und geachtete Revolutionärin ihrer Zeit gefeiert werden; ihr Werk, und die sich darauf beriefen, verfielen hingegen unter Stalin der Exkommunizierung. Methodisch wurden aus den Schriften Lenins und Luxemburgs die Differenzen herausgefiltert und – Lenins Auffassungen kanonisierend – alle abweichenden Auffassungen Luxemburgs zu »Fehlern« erklärt und »systematisiert« (Schütrumpf 2006, 43). Gänzlich ausgeblendet wurden die »Übereinstimmungen […] in Grundfragen der sozialistischen Bewegung«, die Lenin und Luxemburg »in den Jahren zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917/18 geeint und als Linke in der SI ausgewiesen hatten« (Plener 2009, 11); nichts erinnerte an die zwischen beiden bestehende, auf ihr »deutliches Bewusstsein von ihren unterschiedlichen historischen Aufgaben« sich gründende »intensive gegenseitige Anerkennung, die beispielhaft für jede Form solidarischer Kritik ist« (Negt 1974, 197).
I. Der Ausdruck L taucht in der kommunistischen Bewegung auf, als Grigori Sinowjew im Rahmen der 1924 von der Komintern eingeleiteten »Bolschewisierung« der KPn (vgl. Ruge 1991, 82) im April 1925 zum Kampf gegen ihn aufruft (vgl. Internationale Pressekorrespondenz, 1925, H. 99, 1350f). Stalin verschärft den ideologischen Druck im November 1931 mit einem Brief an die Zeitschrift Proletarskaja Revolucija unter dem Titel Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus, in dem er, ohne den Term L explizit zu benutzen, Luxemburg und Trotzki als miteinander verbundene Gegner des Leninismus darstellt. […] Auch wenn das Feindbild L für alle Parteien der KI auf dem Weg der Bolschewisierung verbindlich war, zielte der unter Stalin mörderisch werdende Kampf gegen Luxemburg und ihre Anhängerinnen und Anhänger in erster Linie auf die deutsche und v.a. auf die polnische kommunistische Bewegung. In beiden hatte Luxemburg zur Jahreswende 1918/19 großen (in der deutschen sogar größten) Einfluss bei der Formierung der KP. Die polnische Seite der L-Geschichte wird im deutschsprachigen Raum kaum oder gar nicht beachtet. Erst der enge Zusammenhang von polnischer und russischer Arbeiterbewegung im Zarenreich aber macht die Schaffung des L verständlich.
II. Die revolutionäre Theorie und Praxis Rosa Luxemburgs dem L, wie ihn der ML konstruierte, zu entreißen, ist immer wieder unternommen worden. Im Folgenden werden diese Anstrengungen von der Nach-Stalin-Zeit bis zur postkommunistischen Ära beleuchtet: ein Ringen darum, den L-Begriff positiv zu wenden und Luxemburgs Platz im »pluralen Marxismus« (W.F.Haug 1985, 11) und mit ihr diesen zur Geltung zu bringen. Weil sie offene Diskussionsräume, die Anerkennung (dis)kontingenter Erfahrungen und eine partizipative Politikentwicklung für ihren Marxismus als unentbehrlich erachtete, bezeichnet Rohit Lekhi sie selbst als »radical pluralist« (1996, 10). Nach dem Untergang des Staatssozialismus ist ihre Forderung nach innerinstitutioneller wie gesellschaftlicher Demokratie erst recht von Belang für einen offenen und integrativen Sozialismus.
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