Kommunistisches Manifest
A: bayān šuyū‛ī. – E: Communist Manifesto. – F: Manifeste Communiste. – R: Kommunističeskij Manifest. – S: Manifiesto comunista. – C: gongchandang xuanyan 共产党宣言
Thomas Marxhausen
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1354-1374
Das Manifest der Kommunistischen Partei, entstanden 1847/48, ist die weltweit bekannteste und wirkungsmächtigste Schrift des Marxismus. Die gedankliche Präzision und Sprachgewalt, womit es die »Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« als »Geschichte von Klassenkämpfen« (…) skizziert, hat ihm unter den Kommunisten den Status eines Gründungsdokuments ihrer Bewegung verliehen. Das Manifest, dessen Verbreitung die der Bibel bei weitem übersteigt, war Kraftquell in Zeiten der Niederlage, wurde versteckt, auswendig gelernt und weitererzählt. Es wurde selbst dort rezipiert, wo sich der Kapitalismus noch nicht oder nur ansatzweise herausgebildet hatte. Rebellierende Unterdrückte übersetzten ›Proletarier‹ mit ›Ausgebeutete‹ oder ›Arme‹ und ›Bourgeoisie‹ mit ›Ausbeuter‹ oder ›Reiche‹, um Letzteren zu verkünden, ihre »Totengräber« (…) seien bereits am Werk. Internationalistische Aktionen erfüllten den das Manifest beschließenden Aufruf mit Leben: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« (…)
Das Werk resultierte aus der Wechselwirkung von Theorie und Praxis. »Ein Jahrzehnt des […] Ringens einer fortgeschrittenen Arbeiterorganisation um ein ihr adäquates Programm, ein halbes Jahrzehnt der komplizierten, vielschichtigen Herausbildung der marxschen Ideen mündeten in die Debatten und Beschlüsse des zweiten Kongresses« von 1847 und »schließlich in die Abfassung des Manifests«; das »›Verschmelzen‹ von Arbeiterbewegung und wissenschaftlicher Theorie« konnte sich »nicht im luftleeren Raum und nicht in der Studierstube« vollziehen, »sondern nur im Leben einer Organisation, die sich dabei qualitativ verändert« (Hundt 1993). »Nie wurde die kapitalistische Globalisierung […] grandioser besungen« (Greffrath 1998), überhaupt hat kein Vertreter der Bourgeoisie je deren revolutionäre Rolle »more powerfully and profoundly« (Berman 1982) erfasst als das Manifest. Die »klassische Form«, die der Schrift ihren »dauernden Platz in der Weltliteratur« gesichert hat (Mehring, Karl Marx), enthält ein emanzipatorisches Potenzial, das in der Suche nach Alternativen zur neoliberalen Globalisierung fortwirkt.
Verfasser des Manifests ist Marx. Da die Vorarbeiten und Anregungen von Engels aus dem Entstehungsprozess nicht wegzudenken sind, ist das Manifest stets – mit Ausnahme der anonymen Erstveröffentlichung – dennoch als das Werk beider gedruckt, rezipiert und in die Werkgeschichte eingeordnet worden. Es enthält eine Fülle von Gedanken, die von Marx oder Engels schon vorher geäußert wurden, ist aber keine Kurzfassung ihrer seit 1843 zu Papier gebrachten Überlegungen (z.B. ist die Entfremdungstheorie ausgespart), schon gar keine bloße Collage aus Selbstzitaten. Franz Mehring zufolge fasst es »die neue Weltanschauung seiner Verfasser in einem Spiegel zusammen, dessen Glas nicht klarer und dessen Rahmen nicht enger sein konnte« (…). Als Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hält das Manifest den »Sieg des Proletariats« für ebenso »unvermeidlich« (…) wie die auf ihn gegründete Entstehung von Verhältnissen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (…).
Im Manifest sind Anschauungen verarbeitet, die zu seiner Entstehungszeit zum Gemeingut sozialistischer und kommunistischer Strömungen gehörten. Dem von anarchistischer Seite erhobenen Vorwurf, Marx habe Victor Considérants Manifeste (1843) plagiiert (Ramus 1906; Tscherkesoff 1906), hält Kautsky entgegen, beide Publikationen hätten »nur die oberflächlichen Gedankengänge gemein […], die allem Sozialismus eigen sind«, während sie »in allen Punkten, […] die die verschiedenen Richtungen der Sozialisten voneinander schieden, den geraden Gegensatz zueinander bilden« (1906). Für Marx und Engels blieb das Manifest ein konstanter Bezugspunkt; seine zentralen Aussagen und Losungen flossen in theoretische Abhandlungen und politische Dokumente ein; die Bewertung des Manifests ist daher von der ihres Lebenswerks nicht zu trennen.
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