Landnahme

A: 'istīlā'. – E: land seizure, land grab. - F: accaparement des terres. – R: priobretenie zemli. - S: acaparamiento de tierras. - C: yongzhiminfangshizhanlingtudi 用殖民方式占领土地

Klaus Dörre

HKWM 8/I, 2012, Spalten 664-688

L ist eine Metapher für die expansive Dynamik des Kapitalismus. Als sozialwissenschaftlicher Term besagt das L-Theorem, dass kapitalistische Gesellschaften sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren können, weshalb sie auf die fortwährende Okkupation eines nichtkapitalistischen Anderen angewiesen sind. Jeder Wachstumsschub kann als eine Phase je spezifischer L durch den expandierenden industriell-marktwirtschaftlichen Teil der Volks- und Weltwirtschaft beschrieben werden (Lutz 1984). Mit Begriffen wie Inwertsetzung, reelle Subsumtion, Kolonialisierung und Imperialismus verwandt, geht es beim L-Theorem immer auch um die Nicht-Linearität und Begrenztheit kapitalistischer Entwicklung. Ohne die Inbesitznahme und ggf. die »aktive Herstellung« (Harvey 2005) eines nichtkapitalistischen Anderen ist die Dynamisierung und Selbststabilisierung des Kapitalismus letztendlich nicht möglich.

Die Geschichte der L-Metapher lässt sich bis ins Alte Testament zurückverfolgen. Als biblisches Motiv thematisiert der Begriff den Auszug der Stämme Israels aus Ägypten und die L in Kanaan. Diese Wüstenwanderung und die anschließende Niederlassung werden von Archäologen und Historikern wahlweise als Eroberung, Revolte oder als migrationsgetriebene Penetration gedeutet. Im Sprachgebrauch von Historikern bezeichnet L die Inbesitznahme oder Besiedlung eines Territoriums durch Völker oder soziale Gruppen. In engeren, aktuell genutzten Fassungen (land-grabbing, Landraub) bezeichnet die Kategorie Praktiken des globalen Agrobusiness. Unternehmen und Staaten kaufen, teilweise gemeinsam mit privaten Investmentfonds, in großem Stil landwirtschaftliche Flächen auf, um Nahrungsmittel oder Bio-Treibstoff herzustellen. Eine Folge ist die Verdrängung kleinbäuerlicher Nutzungsformen zugunsten agroindustrieller Monokulturen. In diesen mehrdeutigen Begriffsverwendungen klingt bereits ein Grundmotiv unterschiedlicher L-Konzepte an. Stets geht es um Expansion, um Okkupation und Inbesitznahme von »Land«, das allerdings nicht mit Grund und Boden identisch sein muss. Eine andere Diskussionsrichtung knüpft an Lenins Konzeption der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft und seine Unterscheidung des preußischen und amerikanischen Weges an, die beide mit Formen der L verbunden sind (LW 13).

Von land-grabbing im engeren Sinne und vom Diskurs über die Genesis und Entwicklung des Agrarkapitalismus muss eine Verwendung innerhalb des Marxismus und der Sozialwissenschaften abgegrenzt werden, die L als Begriff für die Analyse kapitalistischer Entwicklungsweisen nutzt. In diesem Kontext eröffnet das L-Theorem eine spezifische analytische Perspektive, welche die Austauschbeziehungen zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Territorien, Produktions- und Lebensweisen, Klassen und Schichten thematisiert. Außer von Marx ist das L-Theorem von solch unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern wie Rosa Luxemburg und Hannah Arendt, dem Industriesoziologen Burkart Lutz oder dem marxistischen Geographen David Harvey bearbeitet worden. In jüngster Zeit wird das Konzept im politikwissenschaftlichen Kontext (Streeck 2009), von heterodoxen Ökonomen (Bellofiore 2009, Special Section 2010) und Soziologen (Dörre/ Lessenich/Rosa 2009) sowie seitens der feministischen politischen Ökonomie (u. a. Madörin 2007) aufgegriffen, um die krisenhaften Metamorphosen des Kapitalismus seit den 1970er Jahren auch zeitdiagnostisch einzufangen. Alle Genannten nehmen je spezifische Entwicklungsphasen des Kapitalismus deutend in den Blick.

Agrobusiness, Akkumulation, Aneignung, Arbeiterbewegung, Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, Armut/Reichtum, Ausbeutung, Besitz/Eigentum, Disziplin, Enteignung, Erde, Exteriorität, Faschismus, Feminisierung der Arbeit, Feudalismus, Feudalismus-Debatte, Fordismus, formelle/reelle Subsumtion, Frauenarbeit, Gerechtigkeit, Geschlechterverhältnisse, Gesellschaftsformation, Gewalt, Globalisierung, Hausarbeitsdebatte, Hausfrauisierung, häusliche Produktionsweise, Herrschaft, hochtechnologische Produktionsweise, Ideologiekritik, Imperialismus, industrielle Reservearmee, Inwertsetzung, Kapitalismus, kapitalistische Produktionsweise, Klassenanalyse, Kleinbauern, Klimapolitik, Kolonialismus, Kommodifizierung, Konkurrenz, Krieg, Krise, Krise des Fordismus, Krisentheorien, Kritik der politischen Ökonomie, Kultur, Kulturimperialismus, Lebensweise/Lebensbedingungen, Legalität/Legitimität, Legitimationskrise, Lohnarbeit, Luxemburgismus, Macht, Markt, Marktwirtschaft, Mehrwert,Natur, Ökologie, Ökologisierung der Produktion, Ökosozialismus, Oktoberrevolution, Prekariat, Preußischer Weg, Produktionsverhältnisse, Produktionsweise, Produktivkräfte, Rassismus, Reproduktion, Reproduktionsverhältnisse, sekundäre Ausbeutung, Sexismus, Sozialismus, Stalinismus, Subsistenzproduktion, Tendenz/Tendenzgesetz, tendenzieller Fall der Profitrate, Totalitarismus, Umwelt, Überakkumulation, ursprüngliche Akkumulation, vorkapitalistische Produktionsweisen, Wachstum, Weltkrieg, Wettbewerb, Zwang

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l/landnahme.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 12:39 von christian     Nach oben
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