Demokratische Psychiatrie
A: Ṭib nafsānī dīmuqrāṭī. – E: Democratic psychiatry. – F: Psychiatrie démocratique. – R: demokratičeskaja psichiatrija. – S: Psiquiatría democrática. – C: minzhu jingshen bing xue
Erich Wulff
HKWM 2, 1995, Spalten 551-555
Von Italien ausgehende radikale psychiatrische Reformbewegung, die eine vollständige Wiedereingliederung psychisch Kranker und anderer Randgruppenangehöriger in eine Gesellschaft fordert, die sich ihrerseits in Richtung auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit hin entwickeln soll. In der Wiedereingliederung der Ausgegrenzten sieht die DP zugleich eine Chance für das Ingangkommen solcher gesellschaftsverändernder Prozesse. Die aus den Anstalten ins »Territorium« zurückgeholten »Irren« sollen als »Sand im Getriebe« der – für die Kapitalverwertung unabdingbaren – gesellschaftlichen Normierungserwartungen fungieren und dadurch einen Prozeß der Reflexion über die strukturelle Gewalt des Systems anstoßen. Die Rückkehr des ehemaligen »Anstaltspatienten« in die Außenwelt kann durchaus dazu beitragen, die vom System gewollte Eindimensionalität der Welt offenkundig zu negieren. Dann würde seine bloße Präsenz zur Infragestellung des Systems beitragen (Basaglia 1968/1971).
Seine Wurzeln hat das Gedankengut der DP in Gramscis Ideen zur Zivilgesellschaft, in den auf Randgruppen zentrierten Revolutionstheorien Marcuses, in der Institutionskritik Goffmans, in Foucaults Analysen der Ausgrenzung des Wahnsinns als »Unvernunft« sowie schließlich auch in der britischen Antipsychiatrie (Laing und Cooper).
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