Gerechtigkeit

A: ‛adāla. – E: justice. – F: justice. – R: spravedlivost’. – S: justicia. – C: zhengyi, gongping 正义, 公平

Bastiaan Wielenga (I.), Hermann Klenner (II.), Susanne Lettow (III.)

HKWM 5, 2001, Spalten 357-397

I. Biblische Tradition. – Die Forderung nach G ist für soziale Bewegungen ebenso selbstverständlich, wie sie theoretisch umstritten ist. In den alltäglichen Kämpfen um Überleben und Lebensqualität sind es v.a. die Erfahrungen von Unrecht, die Menschen dazu bewegen, Widerstand zu leisten. Hier können die unmittelbaren Hoffnungen auf Wiedergutmachung, auf Beseitigung von Ungerechtigkeit und Wiederherstellung des Rechts den Ausgangspunkt für die Herausbildung eines umfassenderen Verlangens nach G als Inbegriff einer neuen, von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausschließung befreiten Gesellschaft bilden. Bei diesem »Hunger und Durst nach G« (…) setzen aber auch Moralisten und Demagogen an, die die G von den Kämpfen ablösen und in einen abstrakten, ›ewigen‹ Wert verwandeln, dessen Verwirklichung von oben erwartet wird. Vor allem gegen eine solche Ideologisierung richtet sich die Polemik von Marx und Engels (…). Die Frage ist, wie eine solche notwendige Ideologiekritik sich verständigen kann mit den Versuchen, das utopischkritische Potenzial der in Alltagserfahrungen verwurzelten G-Vorstellungen fruchtbar zu machen.

Obwohl sich die sozialen Bewegungen nicht nur in Europa, sondern in allen ›christianisierten‹ Teilen der Welt immer wieder auf biblische G-Vorstellungen berufen haben, sind gerade diese im Marxismus kaum ausgewertet worden. Marx hat trotz seiner an die Propheten erinnernden Mammon- und Moloch-Kritik hinsichtlich des G-Begriffs keine positiven Anknüpfungspunkte in der biblischen Tradition gesehen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass er in der Hitze der Auseinandersetzung mit religiösen Kommunisten wie Weitling und Hess dazu neigte, die Bezugnahme auf religiöses Erbe als Hindernis für eine illusionslose Gesellschaftsanalyse zu betrachten. Die Möglichkeit einer Rückbeziehung auf eine gemeinsame Hoffnungstradition wurde nicht in Erwägung gezogen. Mit Abstrichen gilt dies aber auch für Ernst Bloch, der in anderer Hinsicht die biblischen Schriften sehr wohl zu beerben wusste. Ansätze für einen G-Begriff von unten sieht er nur im Naturrecht der Sekten mit ihrer »sozialrevolutionären Lust zum Urstand« (GA 6), nicht aber im Alten Testament, dessen G-Begriff er unter dem Einfluss von Marcion nur als despotisch-patriarchalischen versteht (…). Er selbst gerät in die Nähe eines biblischen G-Verständnisses, wenn er in den »Heimzahlungsbildern des Jüngsten Gerichts« den Ansatz einer »wirklichen G« sieht, die sich als eine »von unten« gegen die »wesenhafte Ungerechtigkeit« der vergeltenden und austeilenden G wendet (…).

II. Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit. – »G«, »gerecht« und »Recht« (griech. δικαιοσύνη, δίκαιος, δίκη; lat. iustitia, iustus, ius) gehören in Rede und Schrift zu den populärsten Worten und zugleich zu den umstrittensten Begriffen. Das gültige Maß für die Bewertung von Verhaltensweisen und Verhältnissen charakterisierend, sind »G« und »gerecht« ebenso wie »U« und »ungerecht« Worte der Alltags-, der Politiker- und der Wissenschaftlersprache, besonders der Theologen, Philosophen, Soziologen und Juristen. – Mit G bzw. U werden Relationen zwischen zumindest zwei Handlungen oder Verhältnissen samt deren Urhebern bewertet, deren eine als Maßstab für die andere dient. So werden z.B. das konkrete Verhalten eines Menschen oder dessen allgemeine Verhaltensweise, das Urteil eines Gerichts, das Gesetz oder der Gesetzentwurf eines Parlaments, der Krieg eines Staates, die Praxis der Polizei, die Eigentumsverhältnisse und die Hierarchien in einer Gesellschaft, das Verhältnis der Ethnien und der Geschlechter zueinander und des Staates zu ihnen, die Todesstrafe, der Rassismus, die Zensuren eines Lehrers, die Einkommenssteuer, das Bildungsprivileg und sogar das Schicksal, der Weltverlauf oder die Eigenschaften wirklicher, eingebildeter und erdachter Wesen als gerecht (oder ungerecht) bewertet, was zugleich eine positive oder negative Beurteilung, eine Billigung oder Missbilligung, eine Anerkennung oder aber eine Verurteilung bedeutet. Richtmaß für die Beurteilung eines Verhaltens als gerecht oder ungerecht können sowohl real existierende als auch bloß vorgestellte Verhältnisse in der Form von Konzeptionen, Zielen oder Idealen sein. Die negative Beurteilung impliziert die Aufforderung, ungerechtes Verhalten zu unterdrücken und ungerechte Verhältnisse durch gerechte zu ersetzen.

G und U sind Mobilisierungsbegriffe: In Emanzipationsbewegungen für politische, soziale, kulturelle, ethnische, nationale, internationale oder Geschlechter-Gerechtigkeit motivieren sie Ausgegrenzte, Ausgebeutete, Unterprivilegierte und Unterdrückte, die für ungerecht gehaltenen Gesellschaftsverhältnisse zu reformieren oder zu revolutionieren. Mit Hilfe von G-Forderungen kann aber auch zu Konterrevolutionen und Kriegen aufgestachelt werden. Gebrauch und Missbrauch von G-Auffassungen sind zuweilen schwer zu unterscheiden.

III. Nach dem Zusammenbruch des administrativen Sozialismus und dem Siegeszug des Neoliberalismus kam es zu einem sprunghaften Anwachsen von Veröffentlichungen zum Problem der G, wobei v.a. neoliberale und postkeynesianische Positionen aufeinander treffen. – Die neoliberalen Positionen arbeiten an einer begrifflichen Entkoppelung von G und Gleichheit. G wird als Suum cuique (Jedem das Seine) artikuliert, und die antike Konzeption der »proportionalen G« mit einem neoliberalen Leistungsbegriff verknüpft: »Jeder Person sollten die Rechte, die Achtung, die Rücksicht und die Anteilnahme zukommen, auf die sie kraft dessen, was sie ist und was sie geleistet hat, Anspruch erheben kann« (…). Plädiert wird für einen »Minimalsozialstaat« (Kersting), der sich am sog. Suffizienz-Prinzip orientiert: »Weniger zu besitzen ist schließlich vereinbar mit dem Besitz einer ganzen Menge, und schlechter abzuschneiden als andere impliziert nicht, schlecht abzuschneiden. […] Es besteht keine notwendige Verbindung zwischen dem Leben am unteren Rand der Gesellschaft und Armut in dem Sinne, in dem Armut ein ernsthaftes und moralisch unannehmbares Hindernis zu einem guten Leben ist.« (Frankfurt 2000) Aufgabe des Staates ist es, die Staatsbürger materiell so weit abzusichern, wie dies erforderlich ist, um sie »marktbereit« (Kersting 2000) zu halten. Ähnlich wie im politischen Feld werden hier in erster Linie keynesianisch orientierte Umverteilungs-Konzeptionen angegriffen. Die meistdiskutierten Gegner der Anti-Egalitaristen sind Ronald Dworkin und John Rawls, der sich z.B. mit Keynes für den »Vorrang der G vor Leistungsfähigkeit und größerer Nutzensumme« ausspricht (…).

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g/gerechtigkeit.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/17 10:08 von christian     Nach oben
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