Dialektik
A: djadal, dīyālīktīk. – E: dialectics. – F: dialectique. – R: dialektika. – S: dialéctica. – C: bianzheng
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 2, 1995, Spalten 657-693
»Algebra der Revolution« hat Alexander Herzen die hegelsche D genannt, und als »lebendige Seele« des Marxismus pflegt man zumal in der Nachfolge Lenins die materialistische D zu bezeichnen. Sie ist ein Schlüssel zum philosophischen Denken und zur sprachlich-ästhetischen Produktionsweise Brechts, der sie die Große Methode nennt. Was D bedeutet, ist umstritten, und der Streit um D ist immer zugleich ein Streit um den richtigen Weg gewesen.
»In ihrer mystifizierten Form«, gemeint ist die hegelsche, »ward die D deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien«; in der Form, die Marx ihr gibt und die er im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital (1873) »ihre rationelle Gestalt« nennt, »ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und Greuel«; sie ist es, weil sie subversiv ist, weil sie in die herrschende Ordnung als die Ordnung der Herrschaft Bewegung bringt, »weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation« seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist« (…). – In diesem Sinn praktizierte D wurde auch staatssozialistischer Herrschaft ein »Ärgernis und Greuel«.
Es scheint fast unmöglich, über Dialektik zu reden, ohne undialektisch zu reden, also, wie der Dialektiker Brecht warnt, »den fluß der dinge selber in ein starres ding« zu verwandeln (AJ). Andrerseits ist es, wenn D gehaltvoll ist, erst recht unmöglich, ›richtig‹ über die Sachen selbst zu reden, ohne ›dialektisch‹ über sie zu reden, also die starren Dinge wieder in Fluß zu bringen. Der mögliche Gehalt von D muß sich daher in allen Artikeln eines marxistischen Wörterbuchs darin erweisen, was diese in praxi zur D beitragen, wie also in der Darstellung der ›Sachen selbst‹ D aufscheint.
Marx praktiziert D zunächst als negative gegen ›metaphysisches‹ Denken, worunter er statisches Ordnungsdenken versteht, das starre Trennungen voraussetzt, dualistisch ist, den Dingen ein fixes Wesen zuschreibt, statt sie in Bewegung und Übergang, im Gegeneinander und in Wechselwirkungen aufzufassen. Seine D-Auffassung wendet sich gegen jedes Denken, das zumal im Blick auf die menschlichen Dinge die Aufmerksamkeit nicht auf Werden und Vergehen, Konflikte und Widersprüche, Herrschaftsverhältnisse und ihre Subversion richtet. Drei Aspekte sind besonders zu berücksichtigen: 1. Philosophiegeschichtlich gilt es, Bruch und Kontinuitäten im Verhältnis zur Tradition zu denken. 2. Epistemologisch gilt es zu untersuchen, was D für den Theoretiker und Wissenschaftler Marx leistet. 3. Wirkungsgeschichtlich gilt es, die vor allem an Marx' Rede von »Gesetzen« der D anknüpfende, fast durchgängige Verkehrung zu denken, den D-Verlust, der sich in den offiziellen Hauptströmungen des Marxismus ereignet hat, kontrastiert durch Beispiele befreiender Produktivität. Insgesamt geht es um den Versuch, eine Vorstellung von der D der D-Auffassungen in der Geschichte des Marxismus zu gewinnen.
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