naturwüchsig

A: min at-tabī’a, bidā’ī. – E: naturally developed, organically. – F: naturel, d’origine naturelle. – R: prirodnyj, samobytnyj. – S: natural. – C: zìrán xíngchéng de 自然形成的

Tobias Reichardt (I.), Hansjörg Tuguntke (II.)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2297-2303

I. N ist eine seit Mitte des 19. Jh. in Wissenschaft und Publizistik häufig verwendete Metapher, die zunächst vorrangig dazu diente, vergangene gesellschaftliche Verhältnisse in ihrer vermeintlichen ›Unverdorbenheit‹, ›Echtheit‹ oder gar ›Göttlichkeit‹ den gesellschaftlichen Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart als positive Referenz entgegenzusetzen, die als ›künstlich‹, ›kalt‹ und ›verstandesmäßig reflektiert‹ galten (vgl. Treitschke 1882, 96; Hug 1896, 246; Meyer 1900/1981, 198 u. 446). Eingeführt wurde das »Kunstwort« (Dabag 1984, 650) von dem Historiker Heinrich Leo (1833, 1).

Anders als bei bürgerlichen Autoren des 19. Jh. entbehrt die Verwendung von n bei Marx und Engels jeder ideologisch überhöhten Entgegensetzung eines angeblich Natürlich-Ursprünglichen und Kraftvollen gegen das bloß mechanisch Hergestellte. Sie verleihen dem Terminus einen dem ideologisierenden Sprachgebrauch entgegengesetzten, historisch-kritischen Gehalt. Dabei ist eine doppelte Verwendungsweise charakteristisch, die einerseits gesellschaftliche Verhältnisse als »einfachste« (AD, 20/168), »unentwickelte« (K III, 25/801), »ursprüngliche« (DI, 3/21; im Manuskript gestrichen), andererseits als bewusstlose und »planlose« (20/251) kennzeichnet – im Unterschied zu einem gesellschaftlichen Zustand der gemeinsamen und bewussten Regelung der Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Die kritische Verwendung des Terminus verkehrt den zeitgenössischen Gebrauch unmittelbar in sein Gegenteil: Werden mit dem modischen Kunstwort vergangene gesellschaftliche Verhältnisse oder deren ins 19. Jh. hineinragende Traditionsbestände der unverstandenen »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« (Vorw 59, 13/8) verklärend entgegengesetzt, so charakterisieren Marx und Engels konträr hierzu jene bürgerlichen Verhältnisse in ihrem inneren Zusammenhang selbst als n, als zur »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« gehörig, die mit der bürgerlichen Gesellschaftsformation ende (9).

Anders als Hans-Georg Gadamer meint, der die marxsche Verwendungsweise als einen Fall »romantischer Rückspiegelung« (1960/1975, 259) verkennt, bringt Marx mit der Metapher n die Bewegungsform des Widerspruchs zwischen gesellschaftlich-arbeitsteiliger Produktion und kapitalistischer Aneignung ins Bild. Sie soll veranschaulichen, dass die Entwicklung ebenso wie die inneren Prozesse der kapitalistischen Produktionsweise sich den Menschen darstellen wie die Ereignisabfolge eines Naturgeschehens. Insofern reicht der Gedanke der Naturwüchsigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ins Zentrum der marxschen Gesellschaftskritik.

II. Hochtechnologische Produktionsweise. – Die Entwicklung der herrschenden Produktionsweise zum »transnationalen Hightech-Kapitalismus«, mit dem Computer als »Leittechnologie« (Haug 2012, 10), scheint Veränderungen zu zeitigen, die ihrem n.en Charakter entgegenwirken. Die computerbasierte Steuerung von Produktionsabläufen qua Vernetzung von Menschen, Maschinen und Produkten, die informationelle Durchdringung von Industrie, Handel und Dienstleistung und die damit einhergehende »sprunghafte Zunahme von Staatsaktivitäten und wissenschaftlich gebildetem Personal in Gesundheit, Erziehung, Bildung, Forschung« (Bisky/Ohm 2004, 1074) könnten eine solidarische und umweltverträgliche Vergesellschaftung fördern und die Perspektive bewusster gesellschaftlicher Kontrolle der Produktions- und Verkehrsverhältnisse stärken.

Anarchie der Produktion, Anatomie, Arbeitsteilung, Assoziation, Bewußtheit, Emanzipation, Entfremdung, Entwicklung, Erscheinung/Erscheinungsform, Evolution, Fortschritt, Geschichte, Geschichtsgesetze, Gesellschaft, Herrschaft, hochtechnologische Produktionsweise, Informationsgesellschaft, Irrationalität des Kapitalismus, Kapitalismus, kapitalistische Produktionsweise, Klassenherrschaft, Kommunikation, Menschheit, Mensch-Natur-Verhältnis, Metapher, Moderne, Modernisierung, Natur, Naturalisierung, Naturalwirtschaft, Naturgeschichte, Naturverfallenheit, Naturverhältnisse (gesellschaftliche), Objektivität, Öffentlichkeit, Organisation, Plan, Produktionsplanung, Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte, Produktivkraftentwicklung, Rationalität, Schein, Selbstorganisation, Tradition, Umwälzung, Unbewusstes, Ursprung, ursprüngliches Gemeinwesen, Verdinglichung, von außen, Vorgeschichte, Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft, vorkapitalistische Produktionsweisen, Wertgesetz, Wesen/Erscheinung, Zufall, zweite Natur

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n/naturwuechsig.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 20:21 von christian     Nach oben
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