Fortschritt
A: taqaddum. – E: progress. – F: progrès. – R: progress. – S: progreso. – C: jinbu
Wolfgang Fritz Haug, Tilman Reitz
HKWM 4, 1999, Spalten 701-744
F‹ besagt, dass eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen nur möglich ist, wenn von den bestehenden Zuständen fort geschritten wird. Je nachdem, ob der Begriff sich mit der Vorstellung eines kontinuierlichen oder eines sprunghaften Fortschreitens verbindet, ändern sich seine Bedeutung und sein Einsatzwert. F kann als evolutionärer Automatismus erwartet werden – oder man kann ihn als politische Aufgabe begreifen, der Entwicklung eine bestimmte Richtung zu geben. In diesem Sinn haben ihn alle geschichtlichen Kräfte der Moderne verstanden. ›Modernisierung‹ beinhaltet dagegen kein Fortschreiten von den bestehenden Verhältnissen; sie lässt sich mit dem vergleichen, was in der katholischen Tradition aggiornamento genannt worden ist, das Einholen eines bereits durchgesetzten Standards.
Am Schicksal des F-Begriffs lässt sich dasjenige des Bürgertums in Bezug auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ablesen. Es treibt ihre Veränderung beständig praktisch voran, ist aber nie Subjekt des Prozesses. Die kapitalistische Produktion, Grundlage bürgerlicher Klassenformierung, saugt ein stets wachsendes Potenzial von Rationalität ein, aber immer unterm Primat der Verwertung: an erster Stelle wissenschaftlich-technische Neuerungen, die Lohnarbeit einsparen lassen und/oder die Leistungsfähigkeit und andere Kaufanreize der Waren steigern; an zweiter Stelle organisatorisch-manageriale Rationalität, alles, was Effizienz der äußeren Anordnung und inneren Motivation betrifft, Technologien der Beeinflussung und des Scheins. Im resultierenden Veränderungsgeschehen werden politische Freiheitsgewinne möglich und erkämpft; es ist gespeist mit konzentrierter Rationalität und zeigt eine über Jahrhunderte verfolgbare Gerichtetheit. Und doch verläuft der Gesamtprozess naturwüchsig und irrational. Gestaltende Vernunft, die sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen auf der Erde und ihren Umgang mit dieser richtet, wird ebenso regelmäßig zuschanden, wie stets neue ›Siege‹ über Naturkräfte zu vermelden sind. Mehr noch: am F-Begriff ist abzulesen, wie sie sich in blinde Herrschaft verstrickt, imperialistisch und rassistisch werden kann.
Die moderne Arbeiterbewegung und ihre politischen und theoretischen Formationen, insbesondere der Marxismus, sind als Element und innerer Gegensatz der bürgerlich-kapitalistischen Welt entstanden. Ihre Politik antwortet auf die Gespaltenheit der bürgerlichen Geschichte, indem sie den – von den besten Köpfen des Bürgertums mehr oder weniger vergeblich beschworenen – politisch-ethischen F nicht nur einklagt, sondern für diese Ziele auch immer wieder Macht oder Zugeständnisse der Herrschenden erkämpft. So tritt sie zugleich als Kritikerin der bürgerlichen F-Ideologie und als Kraft ihrer Verwirklichung auf. Durch Revolutionen und Reformen hindurch wiederholt sich an ihr aber auch immer wieder das Schicksal der besten bürgerlichen F-Bestrebungen, einen naturwüchsig fortstürzenden Prozess weiterzutreiben, den in dieser Form niemand gewollt hat.
An der Schwelle zum 21. Jh. teilen sich daher Apokalyptiker und Zyniker die Rolle der Gegenideologen des F, während die Ideologen des Neoliberalismus die strahlende Zukunft globalisierter Profitkämpfe ausmalen. Mit dem F-Glauben scheinen alle F-Kriterien blamiert. Doch ist die resultierende Absage an ›den F‹ nicht weniger verhängnisvoll als es der selbstverständliche Glaube an ihn war. Eric Hobsbawm hat auf die welthistorisch entscheidende Bedeutung der wie immer problematischen F-Ideologie für Frontbildung und Ausgang des Zweiten Weltkriegs als eines Weltbürgerkriegs hingewiesen: »Wie sich herausstellen sollte, verliefen die entscheidenden Grenzen in diesem Bürgerkrieg nämlich nicht zwischen dem Kapitalismus und der sozialen Revolution als solchen, sondern zwischen zwei ideologischen Familien: auf der einen Seite die Nachkommen der Aufklärung des 18. Jh. und der großen Revolutionen, wozu natürlich auch die Russische Revolution gehörte; auf der anderen Seite alle ihre Gegner. Die Grenze verlief also nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen dem, was das 19. Jh. einerseits ›F‹ und andererseits ›Reaktion‹ genannt hätte« (1994).
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