materialistische Bibellektüre
A: qirā’a māddīya lil-kitāb al-muqaddas. – E: materialist Bible reading. – F: lecture matérialiste de la bible. – R: materialističeskoe čtenie Biblii. – S: lectura materialista de la Biblia. – C: wéiwù zhǔyì de shèngjīng yuèdú 唯物主义的圣经阅读
Kuno Füssel
HKWM 9/I, 2018, Spalten 252-266
Die von Marx und der an ihn anknüpfenden Tradition inspirierten materialistischen Bibelinterpretationen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern entstanden aus der Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung mit dem Einfluss der beiden großen christlichen Kirchen auf Gesellschaft, Arbeitswelt und Sozialpolitik. Der Ansatz einer namentlich (und im engeren Sinn) so bezeichneten mBL entstand im intellektuellen und kulturellen Milieu des Paris der späten 1960er Jahre und fand seine erste systematische Darstellung im 1974 veröffentlichten Werk des Portugiesen Fernando Belo Lecture matérialiste de l’Évangile de Marc (dt. 1980). Als Gegenbegriff zu »idealistisch« im Sinne einer ideenfixierten Loslösung vom konkreten und materiellen Leben, sollte »materialistisch« die Methode bezeichnen, »von den wirklich tätigen Menschen« auszugehen (DI, 3/26). Hauptsächlicher Bezugspunkt ist die »umwälzende Praxis« (ThF 3 in Engels’ Version, 3/534) als konkretes epistemologisches Prinzip. Es geht der mBL also nicht nur um eine Rekonstruktion der gesellschaftlich-religiösen Wirklichkeit, aus der die biblischen Texte hervorgehen, sondern auch um eine Analyse, wie diese Texte Partei ergreifen gegen die tödlichen Strukturen von Unterdrückung und Entfremdung. Die mBL versteht die Bibel als eine aktive und aktivierende Form literarischer Produktion, die in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit eingreift. Dabei kommen allerdings nicht nur befreiende, sondern auch machterhaltende Tendenzen zum Ausdruck, die aber wiederum in letzter Instanz von der Befreiungstradition des Exodus überdeterminiert werden (vgl. D.Boer 2008). Die biblischen Texte werden als eine Einheit von Widersprüchen und Grundkonflikten begriffen, die nicht einer oberflächlichen Harmonie zuliebe und unter Übermalung vielfältiger Gegensätze (Volk/Eliten, Mann/Frau, Herr/Sklave, Juden/Heiden, Stadt/Land) ihrer Brisanz beraubt werden dürfen. So verstanden lassen sich auch sozialgeschichtliche und feministische Forschungsansätze und Lektüreprogramme, die sich nicht explizit als mBL bezeichnen, in den Rahmen einer mBL im weiteren Sinn einbeziehen.
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