Marxismus

A: mārksīya. – E: Marxism. – F: marxisme. – R: marksizm. – S: marxismo. – C: Mǎkèsī zhǔyì 马克思主义

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1844-1877

Der ›Inhalt‹ des M füllt dieses Wörterbuch: seine Theorien und theoretischen Debatten, seine Krisen, Spaltungen, historischen Ausformungen, Siege und Niederlagen, die Weisen, in denen er praktisch gelebt worden ist und wird. Hier nun geht es um seine konstitutiven Widersprüche (nicht zu verwechseln mit vermeidbaren Fehlern). Zwangsläufig ergeben sie sich aus dem Verhältnis von allgemeiner Theorie und in je anders konkreter Situation entwickelter Praxis, ferner aus der Verbindung dieses Theorie-Praxis-Zusammenhangs mit der modernen Arbeiterbewegung. Die Frage gilt seiner hieraus entspringenden Dynamik: dem Werden, Vergehen und verwandelten Wiederentstehen des M, in einem Wort, seiner Dialektik.

Im Sprachgebrauch schillert die Bedeutung von ›M‹ zwischen seiner politisch-praktisch gewordenen Wirklichkeit und einer theoretischen Richtung. Im zweiten Sinn von »M als Theorie« bestimmt etwa Predrag Vranicki den Gegenstand seiner Geschichte des Marxismus im Unterschied zu einer »Geschichte des Sozialismus« und »der Arbeiterbewegung im Ganzen« (1961, Vorw. 1.A.). Näher am Theorie und Praxis umfassenden Sinn geht es dem von Eric Hobsbawm inspirierten Projekt der Storia del marxismo (1978ff), das sich als erstes seiner Art versteht (allerdings Vranickis seit 1972 auf Deutsch vorliegende, bereits 1961 auf Kroatisch publizierte M-Geschichte ignoriert), darum, »historisch und analytisch die Entwicklung des M« zu erforschen (Storia, XII). Als Erkenntnisobjekt bestimmt Hobsbawm »die theoretische Schule, die in der Geschichte der modernen Welt den größten praktischen Einfluss gehabt hat« und »zugleich eine Methode zur Interpretation der Welt und zu ihrer Veränderung« darstellt (ebd.). Georg Fülberth akzentuiert das praktisch-geschichtliche Wirken noch stärker und definiert M als »1. eine historisch-materialistische Analyse von Ökonomie und Klassenverhältnissen, 2. eine auf diese gestützte Theorie der Politik, 3. eine politische Praxis in der Perspektive einer Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft« (2015, 7).

Auch wenn kritisch-theoretische Interpretation der Welt und weltverändernde, ein geschichtswirksames Subjekt verlangende Praxis »sich nach unterschiedlichen Logiken [bewegen]«, lassen sie sich doch nicht auseinanderreißen, ohne ihren Sinn als Bestandteile und Dimensionen des M aufs Spiel zu setzen (Haug 1983, PM 1, 33). Beide Bedeutungen fließen ineinander, wenn Engels 1880 dasjenige, was er 1874 den »wissenschaftlichen Sozialismus« genannt hat (18/516) – worin Marx ihm 1880 folgt (19/185) –, zum »theoretischen Ausdruck der proletarischen Bewegung« erklärt (19/228). Dem allgemeinen Sprachgebrauch kommt der Ausdruck einerseits durch seine Vieldeutigkeit entgegen, andererseits deutet er auf ebenso intensive wie unbestimmte Weise auf jene »Substanz des praktischen Handelns«, als die Antonio Gramsci im Anschluss an Georges Sorel »›den Mythos‹« versteht (Gef, H. 7, §39, 894), eine Theorie, die, in den Worten des jungen Marx, »zur materiellen Gewalt« werden kann, »sobald sie die Massen ergreift« (1/385).

M umfasst nicht nur wissenschaftliches Werk und politisches Wirken von Marx, sondern weit darüber hinaus eine Weltgeschichte der Wechselwirkung dieses Werks mit der Welt. Die Welt aber lässt M nur in sich ein, indem sie Eingang in ihn findet. Das macht aus dem M eine geistige Welt vieler Welten, ein vielstimmig erfülltes Universum des Vermischten, Hybriden oder, in den Worten Henri Lefebvres (1980), ein »zur Welt gewordenes Denken«. Dieses Universum an theoretischem Wissen und geschichtlichen Kämpfen, dessen Elemente vielfach und zumeist unerkannt ins allgemeine Bewusstsein und vielfach selbst in die institutionelle Realität der kapitalistischen Gesellschaft eingegangen sind – und sei es nur in Gestalt der »gedanklichen Umkehrung« (Nolte 1994, 54) –, umfasst alles, was Geschichte ausmacht. Von ihm konnte Fredric Jameson, ein Motiv Alexander Kluges (2008) aufnehmend, sagen: »Die gesamte marxistische und kommunistische Tradition, die ungefähr den gleichen Zeitraum umfasst wie das goldene Zeitalter Athens, stellt in einem ganz präzisen Sinne jenes goldene Zeitalter der europäischen Linken dar, dem es sich wieder und wieder zuzuwenden lohnt.« (2009, 470) Freilich kann diese Zuwendung nicht anders denn historisch-kritisch ansetzen. Die postkommunistische Situation verlangt eine radikal nüchterne Selbstreflexion. »Der einzige Ausgangspunkt für eine realistische Linke heute«, schrieb Perry Anderson der Neuen Folge der New Left Review ins Programm, »ist eine luzide Zurkenntnisnahme historischer Niederlagen« (2000, 12).

Die Große Krise des transnationalen Hightech-Kapitalismus – in ihrer Wirkung dadurch verstärkt, dass, wie Thomas Piketty (2013) nachweist, die Rendite der großen Kapitalvermögen das Wirtschaftswachstum strukturell übersteigt und folglich die soziale Ungleichheit im Selbstlauf unaufhaltsam wächst – hat der Welt die theoretische Relevanz der marxschen Kapitalismustheorie und ihres »Überakkumulationsgesetzes« (Haug 2012, Kap. 2.6) als Krisenerklärung wieder in Erinnerung gerufen. Marxistische Theorie kann begründen, warum es einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus überlebensnotwendig bedarf und dass es Erfahrungen gibt, auf die bei deren Entwicklung nur um den Preis der Realitätsuntüchtigkeit zu verzichten wäre. Praktisch jedoch sind die »postsowjetischen Marxisten« (Nolte 1994, 55) ohne ein neues schlüssiges Konzept einer gesellschaftlichen Alternative, das aus den Erfahrungen des 20. Jh. gelernt hätte, ins 21. Jh. gegangen. Allenfalls gibt es Hybridformen ›parteikommunistisch‹ beherrschter ›Mischwirtschaften‹, die VR China an der Spitze, gefolgt von Vietnam und Kuba. Schon vor dem Zusammenbruch der europäischen Staatssozialismen war klar, »dass den Sozialisten, ob Marxisten oder anderen, ihre traditionelle Alternative zum Kapitalismus abhandengekommen ist, zumal wenn und solange sie ihre Vorstellung von ›Sozialismus‹ nicht überdachten und sich nicht von der Annahme befreiten, die (Hand-)Arbeiterklasse sei zwangsläufig der Hauptakteur gesellschaftlicher Veränderung« (Hobsbawm 2012, 396). Entsprechend beschreibt Fülberth den M des frühen 21. Jh. als »wenig leistungsfähig […] auf dem Feld einer Theorie der Politik, sofern diese […] Strategieentwicklung einschließen soll« (2015, 98). Den Hauptgrund hierfür sieht er darin, »dass ein historisches Subjekt, wie es von Marx über Luxemburg, Lenin, Gramsci bis auch noch zur Konzeption des Staatsmonopolistischen Kapitalismus die Arbeiterklasse gewesen ist, nicht ausgemacht werden kann«; zwar gibt es weltweit mehr Lohnarbeitende denn je zuvor, doch sie treten »nicht einheitlich« auf (ebd.).

Unabhängig von dieser Auflösung der geschichtswirksamen Theorie-Praxis-Legierung lässt sich die theoretische Fruchtbarkeit marxistischen Denkens immer von neuem erfahren. So bei der Arbeit am HKWM, wo die von Marx aufgeworfenen Fragen, als eine Art »Marx-Sonde« in Vergangenheit und Gegenwart ausgesandt, oft unvergleichlich interessantere Aspekte zu Tage fördern als die geläufigen ›bürgerlichen‹ Wörterbücher. Aus Kritik geboren, ist allerdings auch das Denken von Marx mit dem Kritisierten behaftet. Wenn marxistisches Denken sich aus der Kritik neuer Materialien stets erneuern und so am Leben erhalten muss, so verlangt es auch immer wieder den kritisch-marxistischen Blick auf Marx und den seitherigen M in seinen vielfältigen Ausprägungen. Auch wenn nicht einfach falsch, wird er ergänzungs- und klärungsbedürftig. Verlangt ist dabei, M nicht nur als Gegenstand zu behandeln, sondern in der Behandlungsweise dieses Gegenstands zugleich selbst zu praktizieren. Damit stellt sich der Einlösungsversuch dem dreifachen Anspruch, im Einklang mit dem Postulat der Feuerbach-Thesen die Wirklichkeit des M nicht objektivistisch, sondern unter dem Gesichtspunkt der Praxis zu behandeln, demgemäß geschichtsmaterialistisch und dialektisch zu verfahren in jenem neuen Sinn, den Marx diesen Orientierungen gegeben hat. Die an der Wiege des M stehenden Widersprüche, die sein geschichtliches Leben durch alles dramatische Auf und Ab begleiten, brechen periodisch in Krisen des M auf. Oft sind diese Krisen die Quittung für fehlendes »Operierenkönnen mit Antinomien« (Brecht, GA 21, 578) als dem Härtetest praktischer Dialektik. Die Alternative lautet in dieser Hinsicht »Krise oder Dialektik des M« (Haug 1983). Damit ist gemeint, dass ein undialektischer Umgang in Theorie und vor allem Praxis mit den konstitutiven Widersprüchen des M diesen kraft einer Dialektik der Sache selbst in die Krise führt. Die konstitutiven Widersprüche des M und ihre Bewegungsformen zu analysieren, ist daher von eminent praktischer Bedeutung. »Theoretisch geleitete ›Politik zu machen‹, heißt demzufolge, solche Widersprüche selbst als Gegenstand der Reflexion und der praktischen Veränderung zu bearbeiten.« (Deppe 1983, 145)

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m/marxismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/28 20:35 von christian     Nach oben
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