integraler Staat

A: ad-daula al-ʼidmāǧīya. – E: integral state. – F: État integral. – R: integral’noe gosudarstvo. – S: estado integral. – C: wánzhěng de guójiā 完整的国家

Bernd Röttger

HKWM 6/II, 2004, Spalten 1254-1266

Die Bestimmung des iS durch Gramsci als »Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang« (Gef), kontrastiert mit den Unklarheiten in der Geschichte der materialistischen Staatsdiskussion über den Zusammenhang von politischer Macht und ökonomisch-sozialer Struktur. Die Debatten entzündeten sich immer wieder an der Einschätzung der umkämpften Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat, Ökonomie und Politik sowie der revolutionären Klassen zum Staat. Sie changieren zwischen der Ableitung des bürgerlichen Staates aus dem Warentausch und einer Auffassung, die den Staat als die Gesellschaft »von oben« regelnde Macht begreift, in der die Konflikte und Kräfteverhältnisse der Klassen ihren verdichteten Ausdruck finden.

Im Gegensatz zur Komintern, die unter Klassenkampf den von außen geführten Angriff auf einen als bloßes Instrument bürgerlicher Herrschaft begriffenen Klassenstaat verstand, versuchte Gramsci mit dem Begriff des iS solche Dichotomien zu überwinden. Die begriffliche Entfaltung des Konzepts speist sich nicht zuletzt aus der Analyse veränderter Herrschaftsformen infolge der dem Fordismus »immanenten Dialektik zwischen der Tendenz zur Überwindung der Produktionsweise und der sich in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen manifestierenden vitalen Gegentendenzen […], wobei im Zentrum dieser Dialektik die Erweiterung des Staates steht« (Telò 1979).

Das von Gramsci oft gebrauchte Attribut »integral« formuliert zumeist einen (noch uneingelösten) Anspruch: So muss der Marxismus zu einer »integralen, totalen Kultur« werden, was nur gelingt, wenn sein authentischer Ausdruck weder an eine bestimmte Person noch an eine der »marxismusfremden« Strömungen gebunden wird (Gef). Oder die Hauptfunktion der politischen Partei besteht darin, »die ›ökonomischen‹ Glieder einer gesellschaftlichen Gruppe zur Eigenschaft von ›politischen Intellektuellen‹ zu erheben, das heißt von Organisatoren aller Funktionen, die mit der organischen Entwicklung einer integralen, zivilen und politischen Gesellschaft verbunden sind« (…). Der Begriff des iS verweist darauf, dass in der »Philosophie der Praxis« Politik, Ideologie und Ökonomie als »innerlich zusammenhängend und notwendig aufeinander bezogen« (…) verstanden werden müssen, um begreifen zu können, was sich im Prozess des Hinaufarbeitens einer Klasse zur Staatsmacht und der Transformation des Kapitalismus bis hin zur perspektivischen Absorption der politischen Gesellschaft in die Zivilgesellschaft abspielt.

Der Begriff iS bündelt die hegemonie-analytischen Überlegungen Gramscis zu den Stabilitätsreserven bürgerlicher Herrschaft und zur Auffassung des Verhältnisses von Struktur und Superstruktur im »geschichtlichen Block […], in welchem sozio-ökonomischer Inhalt und ethisch-politische Form […] identisch werden« (Gef). Der iS kann als ordnungspolitisches Gebilde verstanden werden, das seine gesellschaftliche Basis nicht nur einschließt, sondern verändert. Er orientiert somit nicht allein auf die Analyse einer einmaligen historischen Konstellation des Staates (etwa des »keynesianischen Staats«, Buci-Glucksmann/Therborn 1982), sondern auf Veränderungsprozesse in der für die bürgerliche Formation charakteristischen Trennung von Ökonomie und Politik.

Amerikanismus, bürgerliche Gesellschaft, ethisch-politisch, Fordismus, Führung, geschichtlicher Block, Gramscismus, Hegemonialapparat, Hegemonie, Herrschaft, historischer Kompromiss, ideologische Staatsapparate/repressiver Staatsapparat, Intellektuelle, Internationalisierung des Staates, Katharsis, Keynesianismus, Konsens, Nachtwächterstaat, Oktoberrevolution, organische Intellektuelle, passive Revolution, Planwirtschaft, Politik, Regulationstheorie, Revolution, Staat, Staatsableitungsdebatte, Staatstätigkeit, Stellungskrieg/Bewegungskrieg, strukturelle Hegemonie, Tendenz/Tendenzgesetz, Zivilgesellschaft

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