Kindesmissbrauch
A: istiġlāl al aṭfāl. – E: child abuse. – F: abus/maltraitance d’enfant. – R: iznasilovanie detej. – S: abuso infantil. – C: ertong xingsaorao 儿童性骚扰
Frigga Haug
HKWM 7/I, 2008, Spalten 677-694
K‹ ist ein Unbegriff, da vom Missbrauch von Kindern zu sprechen deren angemessenen ›Gebrauch‹ unterstellt. »Wenn einmal«, schreibt Rosa Luxemburg, »die Akten der Geschichte über die kapitalistische Gesellschaftsordnung geschlossen« werden – »am schwersten wird unter diesen Verbrechen […] die Misshandlung der proletarischen Kinder wiegen« (1902). Sie verortet Kindesmisshandlung wie auch Engels (Lage) und Marx (K I) im Kontext des Gebrauchs fremder Arbeitskräfte unter anderen als »den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen« (…). Im Laufe des 20. Jh. ist das Interesse am kapitalistischen Profitstreben als Triebkraft von K vom lüsternen Interesse an der sexuellen Trieb-Kraft verdrängt worden. Im Ergebnis ist alltagssprachlich die Bedeutung des sexuellen K dominant geworden. In dieser Verwendung kreuzen sich Diskurse von Inzest und Moral, Sexualität und Jugendschutz, Kinderhandel, Pornographie, Pädophilie und allgemeiner Lüsternheit, Gewalt gegen Kinder und Familie. Als ein solcher Knotenpunkt positioniert sich der Komplex im Zentrum der Reproduktion von Gesellschaft und spült privat gehaltene Gewohnheiten ins Öffentliche von Recht und Ordnung. In der Politik um K, die seit den 1980er Jahren in den westlichen Ländern in Form von Kampagnen betrieben wurde, bildeten sich merkwürdige Bündnisse. Im Zentrum steht nicht ein bestimmtes Bild von Kindheit, sondern eines von kindlicher und erwachsener Sexualität. So könnte man mit einem gewissen Recht behaupten, dass die Kampagnen gegen K dort ihren Ausgangspunkt nehmen, wo Sigmund Freud für die Behauptung, dass auch Kinder eine Sexualität hätten, »im Psychiatrischen Verein […] bei den Eseln eine eisige Aufnahme« fand (an Wilhelm Fließ, 26.4.1896). »Wenn er von der Verführung der Kinder durch die Erwachsenen spricht, gibt es im Saal einen regelrechten Aufschrei der Entrüstung.« (Sartre, Freud)
Kindliche Sexualität aus der Verdrängung seitens bürgerlicher Sexualmoral zu ›befreien‹ war eines der Ziele der 1968er-Bewegung. In den Kampagnen gegen K überlagert sich konservative Moral mit dem Bestreben, das Rad der Entwicklung hinter ‘68 zurückzudrehen, und dem Einklagen von Kinder- und Jugendrechten. Zugleich sind sie vor dem Hintergrund des Übergangs zur informationstechnologisch grundierten Globalisierung der Märkte und der Abkehr von der im fordistischen Nationalstaat herrschenden uniformen Normalisierung zu verstehen.
➫ antiautoritäre Bewegung, Bedürfnis, Befreiung, Dispositiv, Erinnerung, Erinnerungsarbeit, Familie, Feminismus, Finanzkapital, Finanzmärkte, Frauenbewegung, Frauenhäuser, Freudomarxismus, Geschlechterverhältnisse, Gewalt, hochtechnologische Produktionsweise, Kampagne, Kinder/Kindheit, Kinderarbeit, Männlichkeit, Moral, Opfer, Organhandel, Pornographie, privat/öffentlich, Prostitution, Psychoanalyse, Selbstbestimmung, Sexualität, sexuelle Befreiung, Vergewaltigung, Weltmarkt