Kritische Kriminologie

A: 'ilm al-ğarīma an-naqdī. – E: critical criminology. - F: criminologie critique. – R: kritičeskaja kriminologija. - S: criminología crítica. – C: pipanfanzuixue 批判犯罪学

Alessandro Baratta (I.), Gerlinda Smaus, Christof Ohm (II.)

HKWM 8/I, 2012, Spalten 146-159

I. Marx und der Marxismus haben, wenn überhaupt, nur marginal zur Entwicklung der KK, ihren theoretischen Grundlagen und ihrem politisch-sozialen Selbstverständnis beigetragen. Dies ist nicht so sehr dem Umstand geschuldet, dass Marx und Engels sich nur fragmentarisch zum Problem der ›Kriminalität‹ geäußert haben, sondern wohl eher der Tatsache, dass auf sie sich berufende Untersuchungen wegen ihres Reduktionismus und Ökonomismus nur eine Variante des soziologischen Positivismus in der Kriminologie darstellen, den die KK ablehnt. Damit ist indes nicht gesagt, dass die marxistische Denktradition für die KK irrelevant sei. Im Gegenteil, sie hält einige wichtige Kategorien und Hypothesen bereit, die fruchtbringend in die Diskussion eingebracht werden können, doch entstammen sie weder Marx’ Anmerkungen zum »Verbrechen« (vgl. NRhZ) noch seiner zusammen mit Engels am Beispiel von Eugène Sues Mystères de Paris formulierten Kritik der modernen Straftheorie (HF). Einzige Ausnahme bilden vielleicht Marx’ Aussagen über die Bedeutung der Strafgesetzgebung gegen die Landbevölkerung, die im Zuge der ursprünglichen Akkumulation gewaltsam von ihrem Boden losgerissen und »massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden« verwandelt wird (K I). Dazu gehört auch die Anmerkung über die vom »Verbrecher« geleistete »produktive Arbeit«, die »einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht«, »damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert«, und zugleich »einen andren Teil der Bevölkerung« durch den »Kampf gegen das Verbrechen« absorbiert (Ms 61-63).

Diese Überlegungen sind insbesondere von Georg Rusche und Otto Kirchheimer (1939/1974) in ihrer wegweisenden Arbeit zu einer materialistischen Sozialgeschichte der modernen Strafsysteme aufgenommen und fortgeführt worden und haben darüber weitere kritische Forschungen angeregt. Für die KK sind diejenigen marxschen Begriffe bedeutsam, die der historisch-dialektischen Gesellschafts- und Rechtstheorie angehören und innerhalb einer humanistisch inspirierten marxistischen Tradition weiterentwickelt und präzisiert worden sind.

II. […] Die us-amerikanische KK, von der die deutsche wesentlich beeinflusst wurde, ist in der Situation des Aufbruchs der 1960er Jahre entstanden. ›KK‹ ist ein uneinheitlich gebrauchter Oberbegriff für unterschiedliche Theorien der akademischen K, die sich als radical, marxist, neo-marxist, socialist, new, left bzw. feminist bezeichnen. Jim Thomas und Aogan O’Maolchatha schlagen vor, »den ganzen Komplex von Werken, die sich auf marxsche, konfliktanalytische bzw. ›radikale‹ Perspektiven beziehen« (1989), als KK zu definieren. Da viele, die sich ihr zurechnen, »den expliziten Bezug auf marxsche Perspektiven heruntergespielt oder vermieden« und Themen wie Dekonstruktion, kritische Theorie, Semiotik, Feminismus usw. ins Zentrum gerückt haben, sei »KK« als Oberbegriff am besten geeignet, denn er akzentuiere »das Projekt und nicht die unterschiedlichen und zum Teil auch inkompatiblen theoretischen Traditionen, in denen Praktiker arbeiten« (ebd.). Herman Schwendinger, Julia Schwendinger u. Michael J. Lynch (2002) rekonstruieren die Attacken, die 1976 in die Schließung des Fachbereichs der Berkeley-Universität mündeten, der die »radical criminology« als kapitalismuskritischen Denkansatz begründet hatte (…); der Begriff – so ihr Einwand gegen Thomas/O’Maolchatha – werde noch immer »mit der Linken und Marx’ Schriften identifiziert« und sei daher »schließlich durch den Sammelbegriff ›critical criminology‹ ersetzt worden« (…). Insofern ist »linke K« die adäquate Übersetzung von »radical criminology« […].

Armut/Reichtum, Bedürfnis, Besitz/Eigentum, Feminisierung der Armut, Feminismus, feministische Rechtskritik, Gerechtigkeit, Geschlecht, Geschlechterverhältnisse, Gewalt, Gewohnheitsrecht, Gleichheit, Ideologiekritik, Illegalität, innere Sicherheit, Justiz, Klassenherrschaft, Klassenjustiz, Kritische Justiz, Legalität/Legitimität, Legitimationskrise, Liberalismus, Menschenrechte, Neoliberalismus, Ökonomismus, Patriarchat, Pauper, Positivismus, Rasse/Klasse/Geschlecht, Recht, Rechte, Rechtsstaat, Rechtssubjekt, Schichten (soziale), Sicherheitsstaat, Strafe, Subjekt-Objekt, Todesstrafe, Unrecht, ursprüngliche Akkumulation, Verbrechen

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