Kontrolle
A: murāqabah. – E: control. – F: contrôle. – R: kontrol’. – S: control. – C: kongzhi 控制
Wolf-Dieter Narr
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1699-1718
K bezeichnet prinzipiell unbegrenzte Phänomene menschlicher Beherrschung: reflexiv auf Menschen bezogen, auf Andere gerichtet, natürlichen Objekten geltend. Alle drei Bezüge treten verschieden verschränkt auf. Ähnlich anderen Erscheinungen und sprachlicher Benennung wie Macht, Herrschaft, Produktion, Politik können die Formen und Inhalte der Vergesellschaftung des Menschen von Anfang an ohne K nicht angemessen begriffen werden. K ist universell, wo Menschen wohnen und tun. Herrschaft ist K durchgehend eigen in wenigstens drei Wertigkeiten: 1. als K der Herrschaft (genitivus subjectivus): als K von Kritik, von nicht herrschaftlich kanalisierten Assoziationen; 2. als K (Begrenzung) von Herrschaft (genitivus objectivus): als Kampf gegen Herrschafts-K und als selbstkontrollierte Autonomie; 3. als ambivalente K-Funktion im (wissenschaftlichen) Erkenntnisstreben und seiner Methodologie; hier überkreuzen sich Elemente einer K, die den aufrechten Gang ermöglicht, K unfreier sozialer und natürlicher Zwänge also, mit einer K, die in die Formen des Denkens und Handelns eingelassen ist. Sie unterdrückt, indem sie abweichend Besonderes wegdrängt.
Historisch anthropologisch betrachtet versuchen Menschen von Anfang an, ihre prekäre condition humaine materiell und immateriell, in sozialen und natürlichen Kontexten berechenbar zu machen. Durch Institutionenbildung, wiederkehrende und kontextspezifisch erneuerte Regeln und Instrumente werden Ängste und Unsicherheiten reduziert bzw. möglichst berechen- und gestaltbar kontrolliert. Dadurch nimmt der Schatten von Selbst-K wie von K durch äußerlich nötigende und innerlich disziplinierende, bald starre, bald bewegliche Arrangements zu. Als Signifikat der dominanten Vergesellschaftungsformen der zuerst europäisch-angelsächsischen, dann globalen ›Modernisierung‹ durchzieht K den modernen Staat als die politische Form kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Sinne instrumentell profitabler Rationalität. Weiter als zuvor werden alle sozialen und natürlichen Zonen kapitalistisch durchdrungen. Infolge der von keiner sozialen Einrichtung übersehbaren Größenordnungen und Geschwindigkeiten ist K durch Markt-Machtinstanzen und ihre Regeln allerdings nur marginal möglich. Krisen und soziale Kosten werden ihrerseits mit neuen Mitteln in den Griff zu bekommen versucht, die soziale Ausgrenzungen verstärken und zugleich immer wieder die Frage nach gesellschaftlicher K hervorbringen.
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