Gegenkultur
A: ṯaqāfa muḍādda. – E: counterculture. – F: contre-culture. – R: kontrkul’tura. – S: contracultura. – C: fan wenhua 反文化
Dieter Herms (I.), Roger Behrens (II.)
HKWM 4, 1999, Spalten 1347-1358
I. Mit dem in den 1960er Jahren aufkommenden Term werden ganz unterschiedliche, gar widersprüchliche Phänomene assoziiert. Im weitesten Sinn meint »G« solche Formen und Prozesse kultureller Betätigung, die alternativ oder im bewussten Gegensatz zu einer jeweils ›herrschenden‹ Kultur stehen. Es werden hier die auf der Kurzformel »Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet« basierenden Aktivitäten gewerkschaftlicher Kulturarbeit ebenso subsumiert wie die sich ständig diversifizierenden Tendenzen kommunaler Soziokulturen (die sich freilich immer wieder zu vernetzen suchen) – in der BRD der 1980er Jahre vor allem das breite Spektrum der ökologisch orientierten friedensbewegten Gruppen und Initiativen (wie z.B. Bioläden, alternative Cafés, Landkommunen, Anti-AKW-Gruppen, Kampagne ziviler Ungehorsam) und der Frauenbewegung (Buchläden, Verlage, Sommeruniversitäten, Kneipen). G oder alternative Kulturen überlappen sich partiell mit Phänomenen der Subkultur und der youth culture, mit Fußball-Fangruppen-Kultur, mit dem Komplex Wohngemeinschaftenkultur, Hausbesetzerszene und Stadtsanierung ebenso wie mit der Lebensweise und dem Gleichberechtigungskampf diskriminierter Gruppen wie der Schwulen, die im Klima der Aids-›Hetze‹ besonders aktiv wurden.
II. Das bürgerliche Kulturverständnis, wie es sich im 19. Jh. herausgebildet hat, ist von der Trennung in hohe und niedere Kultur gekennzeichnet. Diese Unterscheidung wird zumeist parallel zu den sozialen Klassen behauptet: Die Kultur der unteren Schichten und unterprivilegierten Minderheiten gilt als wertlos, ungebildet oder bildungsfeindlich, als ästhetisch wie moralisch verwerflich. G.en stehen quer zu dieser Trennung der kulturellen Sphären. Dies bezeichnet den allgemeinsten Nenner von G, auch wenn der Begriff sehr unterschiedlich, z.T. sogar gegensätzlich gebraucht wird (Schwendter 1978). So werden mit G oftmals Randerscheinungen der herrschenden kulturellen Sphären ebenso wie kulturelle Umbruchphänomene bezeichnet, die noch nicht vollständig in die herrschende Kultur integriert bzw. integrierbar sind. Dass bei allen proklamierten Differenzen in der Kultur der bürgerlichen Gesellschaft, neuerdings auch im positiven Sinne als kulturelle Vielfalt dargestellt, unter der Regie der Kulturindustrie insgesamt die Tendenz zur Integration und Verwertung besteht, ereilt schließlich auch die G. Eine G kann mittlerweile eine – etwa nach ökonomischen Interessen – inszenierte Mode sein, die mit einem Etikett des Rebellischen kokettiert. Dies stellt sich gleichsam als Konsequenz der Gesamtentwicklung des Kulturlebens in der kapitalistischen Gesellschaft dar: Im gleichen Maße, wie sich im 20. Jh. der Kulturbegriff selbst wandelte, konstituierten und verflüssigten sich Bedeutung und Praxis von G(en).
Zu den Umwälzungen und Neubestimmungen des herrschenden Kulturbegriffs – Kultur als geistige Sphäre, als Kunst; Kultur als Alltagspraxis – stehen G.en ebenfalls quer. In und an ihnen vollziehen sich seit den 1960er Jahren mit wachsender Beliebtheit die Diskussionen um Verschiebungen und Neubestimmungen der radikalen Kunst, etwa hinsichtlich des Begriffs der Avantgarde (Bürger 1974). So sind die modernen Künste oftmals ein ästhetischer Ausdruck von G.en; diese können andererseits auch Prozesse in der Gegenwartskunst forcieren – weil sie die Chance bieten, zwischen Elementen der populären Kultur und der Hochkultur zu changieren (Behrens 1998). Der ›Stil‹ einer G prägt sich durch einen praktischen, alltagsbezogenen Umgang mit vorhandenen kulturellen Mustern im Sinne der Montage (Hauser 1974) oder der »bricolage« (Lévi-Strauss; vgl. Clarke 1979) aus. Bedeutungen oder ganze Wertorientierungen können so in neue Kontexte gebracht werden (Jacob 1997; Grossberg u.a. 1992). Scheinen G.en damit zunächst die Homogenität der kulturellen Tradition aufzusprengen, so verweisen neuere Forschungen auf Strategien ihrer Historisierung und Kanonisierung (Ullmaier 1995).
Zahlreiche kulturelle Tendenzen des 19. Jahrhunderts wie z.B. die Bohème sind – im geschichtlichen Rückblick – als G.en bezeichnet worden (Schwendter 1978). Doch erst mit der Entwicklung der ›spätkapitalistischen‹ Metropolen, der Massengesellschaft und einer dazugehörigen Massenkultur erreichen G.en soziale Relevanz. Offenbar sind sie Resultat von Überlagerungsprozessen sozialer Widersprüche. Auch die Arbeiterbewegung ist im Sinne einer Bewegungskultur als G beschrieben worden (zu solchen Ergebnissen kamen die Birminghamer Cultural Studies, aber auch Negt/Kluge 1972). G.en sind aber keineswegs von unmittelbaren Klassenauseinandersetzungen abhängig. So sind die Frauenbewegungen, Jugendbewegungen oder die Bewegungen der ›rassisch‹ Diskriminierten als gegenkulturell dargestellt worden (Marcuse 1973; Davis 1981).
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