Ideologiekritik

A: an-naqd al-’idiyulōǧī. – E: ideology critique. – F: critique de l’idéologie. – R: kritika ideologii. – S: crítica de la ideología. – C: yishixingtai pipan 意识形态批判

Tilman Reitz

HKWM 6/I, 2004, Spalten 690-717

Die Kritik der Ideologie, so könnte man in Anlehnung an den jungen Marx formulieren, bildet die Voraussetzung aller Kritik (…). IK ist der Versuch, Fremdbestimmung abzuwerfen, indem man die Herrschaftsdienlichkeit von Verständnismustern offen legt. Dabei richtet sie sich v.a. gegen die »ideologische Täuschung«, die entsteht, wenn eine Klasse oder Gruppe in der politischen Auseinandersetzung »ihre aparten Interessen als allgemeine Interessen ausspricht« (Marx/Engels). Aber auch wo IK andere Muster angreift, etwa die Umlenkung von Unzufriedenheit auf Fremde und Schwächere, durchleuchtet sie (die Produktion von) Vorstellungen und Einstellungen, welche die allgemeinen, politischen Angelegenheiten in den Subjekten verankern. Daher bedeutet IK für die beteiligten Individuen immer eine rudimentäre Befreiung. Damit diese Erfahrung kollektiv etwas verändert, bedarf es freilich weiterer Faktoren. Denn dass eine Aufklärung der herrschenden Lehren noch lange kein emanzipiertes Leben garantiert, war gerade eine der Einsichten, die IK begründen: Der Versuch, durch vorbildliches Denken den Schein der Vorurteile zu zerstreuen, lässt sich mit Marx als Machtphantasie einer Erzieherkaste begreifen, die »über die Gesellschaft erhaben« zu sein beansprucht (ThF 3); umgekehrt will Marx auch nicht einfach die ideologischen Akteure beseitigen, »die uns, entweder Täuscher oder getäuscht durch ihre Vorurteile, auf die Vernunft zu hören verwehren« (d’Holbach, Système) – eine »Vernichtung der Religion« ohne Veränderung der Religion erfordernden Verhältnisse etwa führt nur über die »Guillotine« zur »Wiederherstellung der Religion« (Marx). Zum praktischen Befreiungsmittel wird IK vielmehr im Kampf um politisch-kulturelle Hegemonie, an dem unaufhebbar viele beteiligt sind und in dem es zugleich auch um die reale Gestaltung des Zusammenlebens geht. Wer hier über welche Ressourcen verfügt (von den Organisationsformen bis zur Massenbasis), entscheidet darüber, ob IK um sich greift oder zur Flaschenpost wird; die Kritische Theorie z.B. hatte sich in den 1940er Jahren mit letzterem beschieden, wurde dann aber unter neuen Bedingungen Teil der geistigen Infrastruktur der Studentenrevolte. Während derart die politische Konjunktur die Wirkungschancen von IK bestimmt, verschieben sich mit den Medien und Strukturen des öffentlichen Raums darüber hinaus ihre Ansatzpunkte. Je mehr etwa die ästhetischen Signale von Fernsehunterhaltung und Werbebildern Wort und Argument ersetzen, desto schwerer fällt der theoretische Einspruch gegen die dadurch vermittelten Auffassungen, und je weiter die Lebenslehren und Überzeugungen in Partikularkulturen zerstreut sind, desto prekärer wird die öffentliche Auseinandersetzung um Schein und Wahrheit. Verschiebungen dieser Art prägen die Geschichte von IK – bis hin zum postmodernen Versuch, sie für obsolet zu erklären.

Mit dem marxschen I-Begriff verbunden ist von Anfang an die IK, nicht zu verwechseln mit dem (moralischen) »Ideologievorwurf« (Hauck 1992). Fällt die Kritik fort, reduziert sich ›I‹ auf ein Etikett für sozial bedingtes ›Bewusstsein‹ oder für (scheinbar) ›ideell‹ bestimmte Bereiche wie Religion, Philosophie und Recht. Wer hingegen die trügerische Verallgemeinerung partikularer Interessen, ein »notwendig falsches Bewusstsein« von Freiheits- und Gleichheitsprinzipien (IfS 1956) oder »systematisch eingeschränkte Kommunikation« (Habermas 1988) nachweisen kann, hat »zugleich Darstellung und […] Kritik« geleistet (Marx).

Die Wortgeschichte von ›IK‹ wurde nie systematisch erforscht, eine frühe Verwendung findet sich bei Antonio Gramsci, der in den 1930er Jahren von der critica delle ideologie spricht (Gef). Dass die Sache der IK und ihrer Neutralisierung kritischen Intellektuellen zu dieser Zeit bereits geläufig war, zeigt Theodor W. Adornos Antrittsvorlesung von 1931: »man hat einen der wichtigsten Begriffe, den der I, um alle Schärfe gebracht, indem man ihn formal als Zuordnung bestimmter Bewusstseinsinhalte an bestimmte Gruppen bestimmte, ohne die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit der Inhalte selbst mehr aufkommen zu lassen« (GS 1). Wer allerdings statt Texten und Aussagen Praktiken (wie das Niederknien zum Beten), Arrangements (wie die Anordnung der Gemeinde im Sakralbau) und Prozesse (wie den Gesamtverlauf einer kirchlichen Eheschließung) analysiert, behauptet, selbst wenn er das fragliche Geschehen ablehnt, nicht zugleich dessen ›Unwahrheit‹. Das ist der sachliche Grund dafür, dass seit Althusser neben die IK die »Theorie des Ideologischen« (PIT 1979) tritt. Im Bereich der Aussagen selbst nimmt die Diskursanalyse ähnlichen Abstand von Wahrheitsfragen. Auch ihr geht es zunächst nur darum, nach welchen Regeln (sprachliches) Handeln organisiert ist, nicht darum, ob das jeweilige Resultat tatsächlich zutrifft. Weil IK beides zu klären beansprucht, wird sie gelegentlich selbst als ideologisch (bzw. ›metaphysisch‹) dargestellt. Damit gerät jedoch ihre Kernfrage in Vergessenheit – wem die jeweilige Weltauffassung nützt.

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