Keynesianismus

A: kinsiyah. – E: Keynesianism. – F: keynésianisme. – R: Kejnsianstvo. – S: keynesianismo. – C: kaiensi zhuyi 凱恩斯主义

Eduard März (I.), Stephanie Blankenburg, Herbert Schui (II.)

HKWM 7/I, 2008, Spalten 595-622

I. Angesichts der Großen Depression in den Jahren nach 1929 hat sich für viele Jahrzehnte eine Wirtschaftstheorie durchgesetzt, die sich gegen die Realitätsferne der neoklassischen Schule wendet. Der marxistisch orientierte polnische Ökonom Michal Kalecki und der britische Liberale John Maynard Keynes sind die beiden bedeutendsten Urheber dieser Theorie, für die sich dann später die Bezeichnung K herausgebildet hat. Im Gegensatz zur Neoklassik behauptet der K, dass Produktion und Beschäftigung von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bestimmt werden. In diesem Kontext ist ein Gleichgewicht auf dem Gütermarkt vereinbar mit einem anhaltend nicht geräumten Arbeitsmarkt, d.h. mit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Damit ist behauptet, dass der kapitalistische Markt und Wettbewerb eine bestmögliche Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen nicht gewährleistet. Krisen und Arbeitslosigkeit sind demnach nicht exogen verursachte Störungen eines harmonisch funktionierenden Kapitalismus, sie folgen vielmehr aus seinen eigenen Funktionsprinzipien. Hier ergeben sich viele Berührungspunkte, aber auch Differenzen zur marxschen Analyse. Gegen den methodischen Individualismus der Neoklassik, der nur mikroökonomisch argumentiert, setzt der K ein makroökonomisches Konzept von Nachfrage und Angebot – Ziel ist ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung. Produktion und Beschäftigung hängen nicht nur von den Investitionen ab, sondern von der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Diese setzt sich aus der Nachfrage nach Investitionsgütern einerseits und Konsumgütern andererseits zusammen – um diese zu stabilisieren ergeben sich Konsequenzen für Verteilungs- und letztlich auch Machtverhältnisse. Daher begründen kapitalismuskonforme Strömungen des K eine ›diskretionäre‹ Wirtschaftspolitik, die je nach konjunktureller Lage durch gezielte Geld- und Haushaltspolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflusst (nicht aber durch Verteilungspolitiken). Der staatliche Interventionismus richtet sich dabei antizyklisch gegen die Markttendenz, um ausgleichend zu wirken: also Ankurbelung von Wachstum in Zeiten der Rezession (expansive Politik), Vermeidung von konjunktureller oder spekulativer Überhitzung in Boomphasen (restriktive Politik). Ein entscheidender Unterschied zu Marx ist die fehlende werttheoretische Grundlage: Keynes analysiert sozusagen aus der Perspektive des »fertigen Resultats« (…). Er untersucht immer schon Wirkungszusammenhänge auf der Ebene des »Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion« (so der Untertitel von K III), während Marx zunächst die Kategorien (Profit, Durchschnittsprofit, Zins etc.), die auf dieser Ebene relevant sind, werttheoretisch begründet. Hierin liegt eine Ursache der widersprüchlichen Interpretationen des K sowie seiner herrschaftsstabilisierenden Absorption in der sog. neoklassischen Synthese.

Der K wurde im Rahmen des New Deal in den USA der 1930er Jahre und nach dem Krieg in Europa zur bestimmenden Wirtschaftspolitik. Der Fordismus und der Aufbau eines sog. keynesianischen Wohlfahrtsstaates führten zu wirtschaftlicher Prosperität. Im ›goldenen Zeitalter‹ konnten ökonomische Krisen bis zu Beginn der 1970er Jahre in Grenzen gehalten werden. Keynes ging es darum, mittels eines liberalen Reformismus den ›kapitalistischen Individualismus vor sich selbst zu retten‹ und sozialistischen Experimenten entgegen zu arbeiten (1962). Dazu scheute er nicht vor Eingriffen in die Macht der Kapitaleigentümer zurück. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht eher an linkskeynesianischen Vertretern orientiert, zielten Gewerkschaften und sozialdemokratische Kräfte weit darüber hinaus. Offensive Nationalisierungs- und Planungsvorhaben, eine angestrebte Neuordnung des Geldwesens und staatliche Preiskontrollen stellten langfristig die Eigentumsfrage. Der Grund, sie zu stellen, weite Produktionsbereiche nicht mehr kapitalistisch zu betreiben, ergibt sich aus der Forderung nach einer Verteilung zugunsten des Lohnes und des Sozialstaates, denn die veränderte Verteilung muss die Profitrate senken, was von einem bestimmten Punkt an in manchen Sektoren eine kapitalistische Produktion nicht mehr erlaubt. Die Linke insgesamt, darunter die Kommunistischen Parteien in Westeuropa und vielen Ländern des Südens waren auf dem Vormarsch. Die großen Produktivkapitale waren in einen umfassenden gesellschaftlichen Kompromiss integriert, konservative oder christdemokratische Parteien ebenso. Wirtschaftsliberalismus und Neoklassik waren nicht besiegt, aber in der Defensive. Doch spätestens Mitte der 70er Jahre führten ökonomische Krisen und weltwirtschaftliche Veränderungen zur Destabilisierung. Doch vor dem Schritt der Enteignung angesichts von Stagnation und steigenden Preisen scheuten die meisten sozialdemokratischen Parteien zurück. Auch das französische Experiment von 1982 scheiterte ebenso wie Ansätze eines globalen K, neoliberale Kritik und die Globalisierung des Kapitals beendeten die kurze Phase keynesianischer Politik. Mit den Krisen neoliberaler Wirtschaftspolitik gewinnen jedoch post- und neokeynesianische Ansätze zu Beginn des 21. Jh. wieder an Bedeutung. In der Linken erfolgt – unter veränderten Bedingungen weltwirtschaftlicher Entwicklung – eine Wiederauflage der Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen des K.

II. Der K wendet sich nicht gegen die klassische politische Ökonomie, sondern gegen eine ahistorische Neoklassik, die Krisen der kapitalistischen Produktionsweise nur durch externe Schocks in einem ansonsten funktionierenden ökonomischen Modell zu erklären vermag. In Absetzung von rein modelltheoretischen Ansätzen wendet er sich der geschichtlichen Verfasstheit kapitalistischer Entwicklung zu. In Übereinstimmung mit den ›Klassikern‹ analysiert er das ökonomische Problem des frühen Kapitalismus: Angesichts der noch niedrigen Arbeitsproduktivität ist der Überschuss, der zur Kapitalakkumulation zur Verfügung steht, relativ gering; Sparen ist daher wichtig, um die Realkapitalbildung voranzutreiben. Es konnte als sicher gelten, dass diejenigen Produktionsmöglichkeiten, die durch niedrigen Konsum (d.h. Sparen) nicht der Herstellung von Konsumgütern dienten, sämtlich genutzt wurden, um Realkapital für eine zügigere Industrialisierung zu produzieren. Ein ›Übersparen‹ war daher in der Praxis nicht zu erwarten. Die Neoklassik abstrahiert später von diesem historischen Hintergrund und erhebt Sparsamkeit zur wesentlichen Tugend aller Marktgesellschaften. Sie erklärt die Sparer zu Stützen der Gesellschaft schlechthin – mit entsprechenden ideologischen Implikationen.

Der Kapitalismus des frühen 20. Jh. jedoch ist nicht durch einen Mangel an Realkapital (Kapitalrestriktion) charakterisiert, sondern an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage (Nachfragerestriktion). Die Wachstumsbeschränkung durch mangelnde Akkumulation tritt mit wachsender Arbeitsproduktivität und Konzentration des Kapitals in den Hintergrund. Entscheidende Entwicklungsbarriere ist nun, dass dem Überschuss, der bei Vollbeschäftigung produziert werden könnte, eine unzureichende unternehmerische Investitionsgüternachfrage gegenüber steht. Ursächlich ist dass es an privatem Verbrauch als Endnachfrage fehlt. Diese ist ein entscheidendes Investitionsmotiv (für Kapazitätserweiterungen). Die wesentliche Bestimmung für den privaten Verbrauch wiederum ist der Lohnanteil am Volkseinkommen (Keynes 1936).

Keynes’ Weltanschauung und politische Überzeugung war die eines fortschrittlich-liberalen Mitglieds des britischen Establishments des frühen 20. Jh. Dennoch ergeben sich zahlreiche Berührungspunkte mit marxistischen Ansätzen. Etliche Vertreter des K wie Kalecki oder Joan Robinson verstehen sich als Marxisten bzw. beziehen sich positiv auf den Marxismus. Die Einteilung des Kapitalismus in die Entwicklungsetappen der Kapital- und Nachfragerestriktion ist dem Marxismus verwandt, ebenso die makroökonomische Herangehensweise und Argumentation mit Aggregaten wie Verteilung, Konsum, Akkumulation und die Ablehnung des methodischen Individualismus zugunsten von ›Aggregatgruppen‹ wie Unternehmen und Lohnempfänger. Schließlich lehnt auch der K die allgemeine und ahistorische Gleichgewichtstheorie der Neoklassik ab.

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