Gewohnheit
A: al-‛āda. – E: habit. – F: habitude, usage, coutume. – R: privyčka. – S: costumbre. – C: xiguan 习惯
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 5, 2001, Spalten 753-770
Auf den ersten Blick scheint G in den traditionellen Marxismen kein Gegenstand begrifflicher Anstrengungen gewesen zu sein. Buhr/Klaus (PhWb) und Sandkühler (EE) führen das Stichwort ebensowenig wie Labica (KWM). Dagegen behandelt das ›bürgerliche‹ Standardwerk HWPh G als »ontologisch-gnoseologischen Grundbegriff der Philosophie« und widmet ihr einen der längeren Artikel (vier mal so umfangreich wie Gewißheit, fünfmal so lang wie Grammatik, dazu eigne Artikel zu Gewöhnung und Gewohnheitsrecht). Die Abwesenheit in marxistischen Wörterbüchern ist erstaunlich: G in ihrer Ambivalenz von Bedingung für Handlungsfähigkeit einerseits, als ›konservative‹, veränderndes Handeln blockierende Traditionsmacht andererseits, hat das Interesse kritischer Theorie und emanzipatorischer Praxis immer wieder auf sich gezogen. Während G bei Marx sogar einen werttheoretischen Status hat, bildet sie zumal bei Lenin neben der Gewalt einen der Pole des Übergangs zum Sozialismus, und Gramsci, in seinem Konzept des ideologischen Stellungskriegs und seinem Projekt einer neuen Lebensweise und Kultur macht in den Gefängnisheften »Kritik der G«, d.h. »Kampf für die Zerstörung gewisser Auffassungsweisen und Überzeugungen und Standpunkte, um andere hervorzubringen und zu erwecken« (Gef 3), begleitet durch die Kritik des Alltagsverstandes und seiner spontanen Philosophie (…), zu einem elementaren Baustein einer Politik des Kulturellen. So lebensnotwendig G.en aufgrund ihrer durch Automatisierung oder Routinisierung entlastenden und stabilisierenden Funktionen sind – sie sind konservativ und werden zum Hemmschuh jeder Veränderung. Sie werden dies nie so sehr, als wann immer das »Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung« (…) akut wird.
➫ Alltag, Alltagsverstand, Apathie im befehlsadministrativen Sozialismus, Aufklärung, Bedürfnis, Befriedigung, Bewußtheit, Determinismus, Dialektik, Disziplin, Dummheit, Erziehung, Feuerbach-Thesen, Fordismus, Gleichgültigkeit, Glück, Habitus, Haltung, Handlung, Ideologiekritik, Kulturrevolution, Lebensführung, Lebensweise/Lebensbedingungen, Lernen, naturwüchsig, Selbstveränderung, Spontaneität, Subalternität, Subjekt-Effekt, Tradition, verändern, Verfremdung