Jenseits/Diesseits
A: al-ʼāḫira/ad-dunyā. – E: the hereafter, the other world/this world. – F: l’au-delà/ce monde. – R: s odnoi storony/s drugoi storony. – S: el más allá, el otro mundo/el más acá, este mundo. – C: bǐ'àn/cǐ'àn 彼岸/此岸
Dick Boer (I.), Wolfgang Fritz Haug (II.)
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1642-1665
I. Das Wort J bezeichnet den »in der religiösen Vorstellung existierenden transzendenten Bereich jenseits der sichtbaren diesseitigen Welt« (Duden, Gr. Wörterbuch). Gebildet wurde es durch Substantivierung einer Präposition mit geographischer Bedeutung: etwas befindet sich vom Betrachter her gesehen auf der anderen (›jener‹) Seite – v.a. bei großen Flüssen (»jenseid dem Jordan«, 1 Mos.), ›überseeischen‹ Regionen (»jenseits des Atlantiks«, vgl. frz. »d’outre-mer«) oder Gebirgen (»ultramontan« /»cisalpin«). – Als Substantiv wird das Wort im Dt. »seit etwa 1800 als Gegenbegriff zu dem das moderne Daseinsgefühl bestimmenden ›Diesseits‹ geläufig« (Kremer 1996). Letzteres ist ein Begriff der Aufklärung, der sich kritisch sowohl gegen die ›Verhimmelung‹ menschlicher Herrschaft wendet als auch gegen die Vorstellung einer Welt hinter oder über dieser Welt, worin die Menschen ihr Heil suchen, das sie nur auf Erden finden können.
Die metaphorische Verschiebung von der räumlichen Präposition zum ›J‹ als außerweltlichem Bereich findet sich philosophiegeschichtlich zuerst bei Platon, bei dem sich auch gleich die Ambivalenz des J-Begriffs zeigt: die Herrschaftsordnung einerseits jeder Kritik zu entziehen und sie andrerseits vom unzerstörbaren, wenn auch ›utopischen‹ Ort her im Namen ihres eigenen Ideals infrage zu stellen. Als Substantiv einer Gegenüberstellung von J/D, die den Widerspruch und das Zerrissene ins Bewusstsein hebt, taucht das Wort im Dt. erst um 1800 auf. »Unser guter Vater ist zu einem bessern J abgerufen«, zitiert das Grimmsche Wb die Standardsprache von Todesanzeigen. Und Rückert dichtet: »ein Bruchstück ist mein Lied, / ein Bruchstück das der Erde, / das auf ein J hofft, / dass es vollständig werde«. Der positive Gegenbegriff zur Vorstellung einer Welt hinter oder über dieser Welt, ›das D‹, meint die den Sinnen und auch der Wissenschaft zugängliche Wirklichkeit als einzig real existierende. Der Ablehnung des J liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Welt der Ordnungen und Institutionen von den Menschen selbst geschaffen ist, sowie der Glaube, dass diese grundsätzlich fähig sind, aus eigener Kraft ihr ›Heil‹ zu verwirklichen. Diese Überzeugung ist ein wesentliches Moment des Programms der Aufklärung. Es gibt aber auch ein modernes Denken, dem dieser Glaube abhanden gekommen ist. Die Hoffnung auf diesseitige Verwirklichung einer wirklich neuen Welt ist ihm ebenso illusionär und abwegig als die religiöse Hoffnung auf ein ›J‹ (Freud). Die marxistische Tradition wird dagegen vom »Prinzip Hoffnung« (Bloch) getrieben: das Angewiesen-Sein auf diese Welt ist Motiv, ihrer Veränderbarkeit zum Besseren auf den Grund zu gehen und begründet ihre Veränderung zu betreiben; hier und nirgendwo anders ist eine andere, bessere Welt zu suchen und zu finden. Unterm Eindruck von Nazismus und Stalinismus, Auschwitz und GULag, aber auch der kapitalistischen Massenkultur verspricht sich bes. der späte Max Horkheimer von der Orientierung aufs D in verändernder Absicht keinen Ausweg mehr aus dem »Unheil«.
II. In die Philosophie führt Platon im Anschluss an Parmenides’ radikale Entsinnlichung der wahren Wirklichkeit und Entwirklichung der Sinnlichkeit eine ›D/J-Zweiweltenlehre‹ ein, wobei er orphische sowie pythagoreische Motive assimiliert. Übers minderwertige und vergängliche Irdische stellt er das vollkommene und unvergängliche Überirdische, übers Natürliche das Übernatürliche, übers Stofflich- Leibliche die zum wahren Sein verselbständigte Idee. Diese Ordnung verknüpft Platon mit der Angst vor Bestrafung und der Hoffnung auf Belohnung. Unterm Eindruck der innergesellschaftlichen Konflikte und der militärischen Niederlagen Athens im Peloponnesischen Krieg war der vom historischen Sokrates noch vertretene Vernunftoptimismus (was die Menschen einsehen, werden sie tun können und auch tatsächlich tun) einer radikalen Enttäuschung gewichen. Vernunft war nicht mehr das Medium der Einsicht, sondern sollte unmittelbar den Oberbefehl erhalten durch die direkte und absolute Herrschaft eines Vernünftigen über eine ihrer Mitsprache beraubte Gesellschaft. In der auf Militärmacht gestützten und von der übrigen Gesellschaft mit allem zum guten Leben Notwendigen auszustattenden philosophischen Elite sollte eine Art Kommunismus der Herrschenden und, um Erblichkeit der Machtstellung zu verhindern, Aufhebung der Familie gelten. Karl Kautsky hat gemeint, hier »die erste philosophische, systematische Verteidigung des Kommunismus, die auf uns gekommen ist« (1913), zu sehen. Intellektuelle Anhänger des ›Staatskommunismus‹ des 20. Jh. sind ihm wegen des für die Staatsklasse reservierten Prinzips des omnia communia zusammen mit der Utopie der Vernunftherrschaft darin gefolgt. Und in der Tat hat die ›realsozialistische‹ Herrschaftsordnung mit ihrem gewaltgeschützten Vernunftanspruch und der ›Nomenklatura‹ über der Gesellschaft Züge von Platons Politeia getragen – mit dem radikalen Unterschied, im Gegensatz zu diesem die Planung und Leitung der Ökonomie nicht den Herrschaftsunterworfenen zu überlassen, sondern zur Kernaufgabe der Staatsklasse zu machen. Fürs platonische J-Konzept war hier freilich kein Platz, nur für die »sozialtranszendente Instanz«, das »J der Gesellschaft«, als das Marx und Engels Staat und Ideologie begriffen haben (Haug 1993; vgl. Engels). Die »Meister, die die Macht repräsentieren« aber, Platons »immer noch lebendige Brut« (Althusser 1995), haben nicht aufgehört, in wie immer transzendental verdünnter Form den herrschaftlichen Dualismus zu reproduzieren.
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