Kunst
A: fann. – E: art. – F: art. – R: iskusstvo. - S: arte. – C: yishu 艺术
Thomas Metscher
HKWM 8/I, 2012, Spalten 449-475
Im alltäglichen wie theoretischen Wortgebrauch ist K ein umstrittener Begriff. Er ist uneindeutig bereits aufgrund seiner doppelten Bedeutung, einerseits im eingeschränkten Sinn für bildende K, andererseits als Kollektivsingular für künstlerische Tätigkeiten überhaupt, ihre Vergegenständlichungen und Aneignungen zu stehen. In ihm lebt noch die alte Bedeutung von gr. τέχνη und lat. ars fort, die sich auf menschliche Fertigkeiten insgesamt, auf ›Künstlerisches‹ im ästhetischen Sinn nur in untergeordneter Bedeutung beziehen. Die Künste gehen ›der K‹ voraus (vgl. Held/Schneider 2007); einen ›allgemeinen‹ Begriff von K gibt es weder in der Antike noch im Mittelalter. Er bildet sich, im Zusammenhang mit dem »modernen System der Künste« (Kristeller 1951-52/1976), in der Neuzeit heraus und ist im strengen Sinn das Resultat der »ideengeschichtlichen Entwicklung seit dem 17. Jh.« (Ullrich, ÄG 3). Er erreicht seine konsequenteste theoretische Fassung in Hegels Ästhetik von 1835/38. Analog dazu entsteht ›Ästhetik‹ als philosophische Disziplin – als Theorie sinnlicher Anschauung erst mit Baumgarten (Aesthetika, 1750/58). Bei aller Ambivalenz im theoretischen Gebrauch lässt sich sagen, dass ›K‹ in diesem allgemeinen Sinn sich von diesem Zeitpunkt an in den wichtigsten, wenn nicht allen europäischen Sprachen durchgesetzt hat. Mit Fug können wir also von dem allgemeinen als dem ›modernen‹ Kunstbegriff sprechen (Metscher 2012).
Wer sich auf die Ebene kunsttheoretischer Überlegungen begibt, betritt vermintes Gelände. K wurde, kraft ihrer Hypostasierung zum Metaphysicum, zu einer quasireligiösen Sinn-Instanz, in der spätbürgerlichen Gesellschaft zu einer ideologischen Macht erster Ordnung. »Form nur ist Glaube und Tat« (Benn 1956/1975). Dieser Vorstellungskomplex ist Kernstück einer ideologischen Formation, die von der Romantik über Nietzsche, den Ästhetizismus, die faschistische Ästhetik bis in die Postmoderne reicht. Er ist keineswegs auf die deutsche Ideologie beschränkt, auch wenn er hier besonders markant wurde. Überdies wurde K in der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend zu einem Bildungsinstitut mit hohem ›kulturellen Kapitalwert‹: Prototyp einer Haltung, die soziale Ungleichheit reproduziert (vgl. Bourdieu 1999). Sie bildete einen »Raum des Ästhetischen« aus (Haug 1993) – einen prätendierten Ort ›jenseits‹ der Welt ordinärer gesellschaftlicher Praxis. Die Kehrseite von ästhetischer Autarkie, quasireligiöser Sinnstiftung und sozialem Privileg bilden scheindemokratische Nivellierung und pubertär-anarchistische Bilderstürmerei, denen auf theoretischer Ebene positivistische Reduktion, ein platter Relativismus, die elitär-nihilistische Abwertung, oft auch nur schiere Ignoranz entsprechen: zu leugnen, dass es überhaupt eine »Eigenart des Ästhetischen« (Lukács 1963), einen eigengesetzlichen Gegenstandsbereich der K mit spezifischen strukturellen Charakteristika, Regeln, Werten, Institutionen, dass es Differenzen ästhetischer Qualität, eine Rangfolge also der Werke gibt, ist in Zeiten postmoderner Beliebigkeit besonders populär. Dem in zahllosen Varianten und unterschiedlicher Maskierung auftretenden Nihilismus in künstlerischen Fragen steht ein wirtschaftlich hochpotenter, doch theoretisch wie ästhetisch verkommener Kunstmarkt assistierend zur Seite.
Die Künste sind eine der Formen, in denen sich die Menschen der Konflikte ihrer Epoche »bewusst werden« und sie »ausfechten« (Vorw 59). So hat sich die marxistische Kunsttheorie, als bewusster Widerpart der dominanten Kunstideologien, ihrer Begriffe und Kriterien stets neu zu vergewissern – im vollen Bewusstsein des Tatbestands, dass es die marxistische Kunsttheorie nicht gibt und der Sache nach auch nicht geben kann. Brechts Plädoyer für »Weite und Vielfalt«, bezogen auf realistische Schreibweise in der Literatur (GW 19), gilt für die Theorie nicht minder.
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