Haltung
A: al-mauqif, al-waqfa, at-taṣarruf. – E: attitude, stance, bearing. – F: attitude, position, comportement. – R: vypravka, otnošenie, osanka, pozicija. – S: actitud, postura. – C: zishi, taidu 姿势, 态度
Darko Suvin
HKWM 5, 2001, Spalten 1134-1142
H ist ein ›verhaltenspolitischer‹ Begriff, den Brecht gegen Verinnerlichung und praxisfremde Ideologien einsetzt, um eine Verhaltensweise zu fördern, die sich nicht an starre ideelle Werte oder Normen halten kann, sondern sowohl situationsbezogen und flexibel als auch klar orientiert bleibt. H soll die Dichotomien Inneres/Äußeres, subjektiv/objektiv, individuell/gesellschaftlich u.ä. überwinden. H.en sind sowohl Körper- wie Denkbeziehungen (vgl. Ruoff-Kramer 1997).
Als terminus technicus einer marxistischen Verhaltenslehre taucht das Wort bei Brecht am Ende der 1920er Jahre auf (vgl. Steinweg 1972) als Antwort auf den Abbau des ›Individuums‹ oder der geschlossenen Persönlichkeit – ein zentraler Gegenstand seines Werkes, thematisch von Mann ist Mann und Mahagonny bis zu Sezuan: »Das wechselnde Außen veranlasst [den Menschen] beständig zu einer inneren Umgruppierung. Das kontinuierliche Ich ist eine Mythe. Der Mensch ist ein immerwährend zerfallendes und neu sich bildendes Atom.« (1926) Einerseits besorgt »der Kapitalismus die Kollektivisierung der Menschen durch Depravation und Entindividualisierung […]. Andrerseits ist die Zertrümmerung, Sprengung, Atomisierung der Einzelpsyche eine Tatsache«. Was bleibt, ist jedoch keineswegs ein Nichts – »Kernlosigkeit [bedeutet] nicht Substanzlosigkeit. Man hat eben neue Gebilde vor sich, die neu zu bestimmen sind. […] Auch das neue Gebilde reagiert und agiert individuell« (AJ, 21.4.41). Alle brechtschen Figuren sind mit Wahlsituationen konfrontiert, sind jasagende und/oder neinsagende Charaktermasken von flexibel allegorischen gesellschaftlichen Einstellungen (der Denkende, die Mütterliche usw.).
Brecht findet wesentliche Elemente seiner partiellen semantischen Neuschöpfung H im ›konkreten Bewusstsein‹ der deutschen Sprache vor: positiv im plebejischen Volksmund vor der bourgeoisen Deformation des Menschen(bildes) in ›innere‹ Grundeinstellung oder Verfassung vs. ›äußeres‹ Handeln; negativ in dieser Spaltung wie auch im autoritär starren Gebrauch des Wortes H von Luther an (vgl. Marcuse 1936). Ausgehend von Brechts Maxime »Erkenntnistheorie muss vor allem Sprachkritik sein« (…) und von seinem »Philosophiebegriff von unten« (Haug 1995; 1996) ist zunächst zu verfolgen, was Brecht im Sprachgebrauch vorfand, dann, was seine Sprache aufgriff und umbildete; schließlich werden Grund und Sinn seiner partiellen Neuschöpfung erörtert.
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