Historisches/Logisches

A: at-tārīḫī/al-mantiqī. – E: historical/logical. – F: historique/logique. – R: Istoričeskoe/Logičeskoe. – S: histórico/lógico. – C: lishi de/luoji de 历史的 / 逻辑的

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 6/I, 2004, Spalten 335-367

»Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.« (DI) Ist dieser Satz auch durchgestrichen, behält er doch seinen Sinn fürs Gesamtwerk von Marx und Engels und die meisten der darauf sich beziehenden Theoretiker und Bewegungen. Somit erscheint das H als Oberbegriff für alle erdenklichen Erkenntnisobjekte des Marxismus, zudem fürs Selbstverständnis seiner Subjekte. Die KrpÖ kann als systematische Historisierung des Kapitalismus aufgefasst werden, wo dieser als ›Natürliches‹ erscheint. Das »Prinzip des materialistischen Historismus […] findet in der von Lenin formulierten methodologischen Direktive seinen Ausdruck, jede Erscheinung vom Standpunkt ihrer Entstehung her zu untersuchen« (Küttler 1988; vgl. LW 29). Antonio Gramsci bekämpft im Namen des historischen Materialismus den v.a. im sowjetischen Marxismus vordringenden philosophischen Materialismus als Rückfall in Metaphysik; die Philosophie des Marxismus kann für ihn, ausgehend von den Feuerbach-Thesen, nur Philosophie der Praxis sein. Die Geschichte ist ihm dabei so wichtig, dass er diese Philosophie als »absoluten ›Historizismus‹« im Sinne einer »absoluten Verweltlichung und Diesseitigkeit des Denkens« (Gef) fasst. Den allgemeinsten Sinn marxistischer Theorie sieht Maurice Merleau-Ponty im »einfachen Aussprechen der Bedingungen, ohne die es keine Menschheit im Sinne einer Wechselbeziehung der Menschen und keine Rationalität in der Geschichte gibt« (1947). Noch Alain Lipietz begreift marxistische Theorie als den »Versuch der ›absoluten Historisierung‹ alles dessen […], was in der herrschenden Ideologie als ewig erscheint« (1992).

Doch um die Verhältnisse zu historisieren, muss das H theorisiert werden und muss sich die »materialistisch-dialektische Methode […] wesentlich im theoretischen Begreifen des H« bewähren (Korsch 1923). Das wichtigste Analysandum ist ja der »Zusammenhang der Menschen untereinander, der durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt ist, wie die Menschen selbst – ein Zusammenhang, der stets neue Formen annimmt und also eine ›Geschichte‹ darbietet« (…). So angegangen, verspricht Geschichte nicht länger »eine Sammlung toter Fakta« zu sein, »wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern« (oder Positivisten), noch »eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten« (…). Doch damit rückt das H in die Position des Gegenstands der »theoretischen Methode« (…). Gleichwohl muss »in der Gestalt der Theorie die der Sache erscheinen« (Adorno, GS 8).

Fragen und Kontroversen beginnen daher, sobald es ums Wie geht. Strittig sind der Wissenschafts- und Theoriecharakter sowie der Status der Grundbegriffe und -annahmen. Dieser Streit war überdeterminiert durch die Konflikte um ›stalinistische Staatswerdung‹ eines Teils der kommunistisch-marxistischen Arbeiterbewegung und die Abspaltung anderer Teile und vieler Intellektueller. Nach einer Phase fruchtbarer Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus und der sprachphilosophischen Wende des Wiener Kreises – v.a. Gramsci und Brecht haben daraus entscheidende Impulse bezogen (vgl. dazu Sautter 1995; Haug 1996) –, brach dieser Austausch im Kalten Krieg ab. Dass Positivismus pauschal zum Feindbild wurde, blockierte die produktive Auseinandersetzung mit der avancierten bürgerlichen Wissenschaftstheorie. Das Verlangen nach einer lehrbaren, spezifisch marxistischen Theorie führte u.a. zu Bemühungen um eine dialektische Logik (etwa Aleksejev 1960), die indes wenig Erfolg hatten.

So kam es, dass die epistemologische Wegsuche und Debatte sich an die Frage nach dem »Verhältnis von H und L« heftete. Das PhWb schreibt diese Terminologie »Marx/Engels« zu (Kosing 1969), doch in Wahrheit ist sie »nicht ›genuin marxistisch‹« (Richter 1985), sondern Engels hat sie in einem popularisierenden Artikel von Hegel übernommen. Doch wieso hat sich Engels’, nicht Marx’ Sprechweise durchgesetzt?

Fasziniert von der »Ähnlichkeit mit dem hegelschen Systemgedanken« (Reichelt 1970), der »Analogie zur hegelschen Dialektik« (Biedermann 1981) oder der »Homologie« (Arthur 2002), ist die marxsche Hegelkritik von vielen Autoren des östlichen wie des westlichen Marxismus in ihrer Tragweite unterschätzt und ist übersehen worden, dass Marx »in seiner prinzipiellen Anerkennung der Schranken und Grenzen der menschlichen Vernunft Kant näher als Hegel« steht (Zeleny 1962). […]

In der »Dauerdebatte« (Küttler) ums Verhältnis von H und L [wurden] nicht nur verdeckte Auseinandersetzungen um staatlich-ideologische Kontrolle vs. gesellschaftliche Autonomie der Wissenschaften geführt, sondern auch wichtige methodologische und objekttheoretische Fragen (nicht zuletzt in Bezug auf die marxsche KrpÖ) abgehandelt: 1. Die Frage, wie eine bewegte Totalität sich zur Darstellung diskursiv in ein kategoriales Nacheinander auseinanderlegen lässt, ohne den Sinn fürs prozessierende Ganze zu verlieren; 2. wie in diesem Nacheinander die Übergänge so zu machen sind, dass sich aus der Analyse Triebkräfte und die Richtung des Übergangs rekonstruieren lassen, dieser also objektiv begründet werden kann; 3. wie sich »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« auffassen lässt (…), wozu es einer ursächlichen Vermittlung zwischen dem ›Festen‹ und dem ›Fluss‹ bedarf, aus dem heraus jenes sich verfestigt – was nichts anderes sein kann als die »menschliche Tätigkeit, Praxis« (ThF 1), verstanden als Verhalten in bestimmten Verhältnissen, die in solchen Prozessen sich gebildet haben und weiterentwickeln.

Ableitung, abstrakt/konkret, Analyse/Synthese, Anfang, Aufbaupläne, Basis, Begriff, Brecht-Linie, Dialektik, dialektischer Materialismus, Ebene, Element, Elementarform, Epistemologie, Erkenntnistheorie, Erscheinung/Erscheinungsform, Form, Forschung/Darstellung, funktional-historische Analyse, Geistesgeschichte, Geisteswissenschaften, Genesis, Geschichte, Gesetz (soziales), Grenzen der Dialektik, Hegelianismus, Hegel-Kritik, Historisierung, Historismus, Historizismus (absoluter), historisch-kritisch, Idee, innen/außen, Kapitallogik, Leitfaden, logische Methode, Marxismus-Leninismus, Metapher, Metaphysik, Methode, Oberfläche, Philosophie der Praxis, Popularisierung, Positivismus, Rekonstruktion, Sprache, Struktur, Strukturalismus, strukturelle Kausalität, Superstrukturen, Übergang, Wertformanalyse, Wissenschaftstheorie

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