Historismus
A: at-tārīḫīya. – E: Historicism. – F: historicisme. – R: istorizm. – S: historicismo. – C: lishi zhuyi 历史主义
Stefan Jordan, Wolfgang Küttler
HKWM 6/I, 2004, Spalten 398-410
H verkörpert für Walter Benjamin angesichts äußerster Bedrohung durch Faschismus und Krieg die vom Konformismus überwältigte Überlieferung. »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹«, schreibt er 1940, »sondern sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.« Gottfried Kellers Satz, »die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen«, bezeichne »im Geschichtsbild des H genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird« (Über den Begriff der Geschichte). Die Antwort auf »die Frage, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des H eigentlich einfühlt, […] lautet unweigerlich in den Sieger« (…). Diese Sätze haben an Aktualität nichts eingebüßt. Ihr H-Bild jedoch bedarf der Differenzierung. Leopold v.Ranke etwa, auf dessen programmatische Forderung an die Arbeit des Historikers (1824) Benjamin anspielt, begriff sich nicht als ›Historist‹. Auch ist die Trennlinie, die bis weit ins 20. Jh. hinein den bürgerlichen Diskurs über H von der materialistischen Geschichtsauffassung scheidet, durchlässiger, als es zunächst den Anschein hat. Die Praxisbeziehung, das innere Verhältnis des kognitiven und des verändernden Umgangs mit Geschichte begründet nicht nur den Gegensatz, sondern macht auch den ›historisch-kritischen‹ Problemzusammenhang beider Begriffsgeschichten aus.
Die Bedeutungen von ›H‹ reichen vom Synonym für Geschichtsdenken in Wissenschaft und Philosophie bis zur Bezeichnung für (Stil-)Eklektizismus im kunsthistorischen Kontext (Brix/Steinhauser 1984). H ist eng mit den Debatten um die Krise des bürgerlichen Geschichtsdenkens in Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jh. verbunden. In kritischer Perspektive erschien der H hauptsächlich als Werterelativismus, in positiver als Entstehungszusammenhang der modernen Geschichtswissenschaft, jeweils einseitig auf die Geisteswissenschaften in Deutschland bezogen. Im Brockhaus wird H in diesem Sinne als ein Denken definiert, das »von der Geschichte als umfassendem Zusammenhang des geistigen Lebens, von der einmaligen Individualität der geschichtlichen Erscheinungen« ausgeht, »die unter dem Aspekt ihrer historischen Entwicklung betrachtet werden« (19.A., 1989, Bd. 10).
In der historistischen Lehre vom Individuell-Einmaligen aller geschichtlichen Phänomene, die den von Frankreich in die alten Regime ausstrahlenden Revolutionsidealen die Legitimität bestreitet, interessieren die Äußerungen des ›Geistes‹ v.a. als Rohstoff zur Gewinnung des Dauerhaften und zur Rechtfertigung des Gegebenen. Daher der Spott des jungen Marx über die »historische Rechtsschule«: »eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist« (KHR).
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