Homosexualität
A: al-ǧensīya al-miṯlīya. – E: homosexuality. – F: homosexualité. – R: gomoseksualizm. – S: homosexualidad. – C: tongxinglian 同性恋
Gert Mattenklott, Volker Woltersdorff
HKWM 6/I, 2004, Spalten 510-528
Dem Begriff »H«, einer medizinischen Neuprägung von 1869, die dazu diente, eine Bevölkerungsgruppe zu pathologisieren bzw. zu kriminalisieren, ist eine lange Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung eingeschrieben. H tritt auf als erklärungsbedürftige und unerwünschte Abweichung von einer Norm, die sich als selbstverständlich setzt (Katz 1995). Der Begriff unterstellt eine geschlechtsunabhängige ›homosexuelle Veranlagung‹ ungeachtet der unterschiedlichen Lebensbedingungen von Lesben und Schwulen. Er suggeriert, dass H als eine geschichts- und gesellschaftsunabhängige Missbildung auftrete. Statt sexuelles Verhalten zu beschreiben, fasst er sexuelle Orientierung als grundlegenden Wesenszug. Dies ist konstruktivistisch kritisiert worden (Foucault 1976; Halperin 1990). Demzufolge beschreibt H eine an historische Vergesellschaftungsformen gebundene Art der Selbstidentifizierung und Lebensführung, die bei weitem nicht alle Praxen gleichgeschlechtlicher Liebe und Lust erfasst.
Auf Gesellschaften, in denen die kapitalistische Vergesellschaftungsform noch nicht universell geworden ist, lässt sich der Begriff kaum anwenden. Dort gibt es andere Formen alternativer geschlechtlicher und sexueller Identitäten, Rollen und Praxen, so den ›Berdache‹ in einigen nativen Kulturen Amerikas (Roscoe 1993; Tietz 1998), den ›Mati‹ in Surinam (Wekker 1994) oder den ›Hijra‹ in Indien (Nanda 1990). Im Zuge der Etablierung neoliberaler kapitalistischer Arbeits- und Geschlechterverhältnisse sowie (des Imports) entsprechender Lebensstile vollzieht sich allerdings auch dort, zumeist über Prozesse subkulturell-emanzipatorischer Reklamation, die Aneignung des Identitätsmodells der H. Oft kommt es dabei zu Hybridbildungen, in die unterschiedliche kulturelle Traditionen einfließen (Muñoz 1999; Rodríguez 1999).
Die dekonstruktivistische Kritik zielt darauf, das heutige Verständnis von H als Ergebnis eines Kampfes zwischen unterschiedlichen Bezeichnungs- und Organisationspraxen freizulegen. Dadurch werden alternative Traditionen mit anderen Geschichten und Bedeutungen sichtbar. Geschichtlich und politisch verortet sich ›H‹ in einem pluralen Feld sexueller und geschlechtlicher Devianzen. Oft wird darin nicht zwischen geschlechtlicher und praktisch-sexueller Devianz unterschieden, wie das mit der durch Medizin und Psychiatrie entwickelten Trennung von H, Transvestitismus und Transsexualität vorgeschlagen wird. Der sexualpolitische Kampf zugunsten vielfältiger geschlechtlicher Praxen richtet sich gegen Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, als deren organisierende Struktur nach Judith Butler (1991) eine »Sex-Gender-Matrix« fungiert: die Verschränkung und wechselseitige Absicherung der normativen Instanzen von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. Wird der Begriff H auch von Betroffenen für kollektive Identitätsbildung in Anspruch genommen, so nicht mit der Unterstellung einer eigenständigen Wesenheit H, sondern aufgrund gemeinsamer Diskriminierungserfahrungen. Wie so oft in der Geschichte gesellschaftlicher Marginalisierungen übernehmen sie die in ausgrenzender Absicht geprägten Begriffe und geben ihnen einen kämpferischen Gehalt (Butler 1998). Es geht darum, sich der Unterdrückung bewusst zu werden, sich zu organisieren und kollektiven Widerstand zu leisten.
Daneben hat es zahlreiche Versuche gegeben, den pathologisierenden und abwertenden Begriff der »H« durch Selbstbezeichnungen zu ersetzen. Mit Begriffen wie »Homo«, »schwul« und »lesbisch« wurden seit den 1970er Jahren homophobe Schimpfwörter aggressiv angeeignet und positiv resignifiziert. Die Bezeichnungen ›schwul‹ und ›lesbisch‹ haben den Vorteil, für die Unterschiedlichkeit männlicher und weiblicher gleichgeschlechtlicher Erfahrungen und Praxen aufnahmefähig zu sein. Über den englischen Sprachraum hinaus hat sich der Ausdruck »gay« durchgesetzt, der ebenfalls eine Umdeutungsgeschichte aufweist; wie »homosexuell« hat er allerdings die Tendenz, v.a. Männer zu repräsentieren und lesbische Frauen unsichtbar zu machen. So meint H im Deutschen laut Duden auch zumeist männliche H. – Die kritische Rekonstruktion der Begriffsgeschichte macht Problematisierungen von Identität, Sexualität und Geschlecht kenntlich, die Grundlage der sexuellen Vergesellschaftung aller wie auch der politischen Bewegung von Lesben und Schwulen sind. Für kritische Theoriebildung und linke Politik gewinnt sie zumal dort an Bedeutung, wo die nachhaltige Integration sexualpolitischer Kämpfe noch aussteht.
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