Idee

A: al-fikra. – E: idea. – F: idée. – R: ideja. – S: idea. – C: sixiang, guannian, linian 思想、观念、理念

Dimitris Karydas, Kosmas Psychopedis

HKWM 6/I, 2004, Spalten 631-646

Gr. ἰδέα von ἰδεῖν (sehen, erblicken), lat. videre (Anblick, Aussehen, Gestalt); daneben auch εἶδος (Art, Beschaffenheit), εἴδωλον (Erscheinung, Schein). I bezeichnet bei den antiken Dichtern (Homer, Pindar, Theognis usw.) den sinnlich wahrnehmbaren, gestalthaften Aspekt der Dinge. Umgangssprachlich wurde I im Zusammenhang von Sehen und Erkennen, überhaupt zur Charakterisierung von Dingen gebraucht.

I ist seit Platon einer der Hauptbegriffe der philosophischen Tradition. Damit geht der Bedeutungswandel vom Sinnlichen zum Un- oder Übersinnlichen, nur verstandesmäßig Intelligiblen einher. Zumeist bezeichnet er die Vorstellung, Sachverhalte oder Handlungsentwürfe hätten jenseits der konkreten gesellschaftlichen und Naturverhältnisse eine selbständige Existenz in einem ›Reich der I.n‹. Die Rede von I abstrahiert in der Regel von deren Produzenten, die wie selbstverständlich den Status einer speziellen »Klasse von Menschen« beanspruchen, denen die Grenzüberschreitung aufs Terrain der »politischen Leidenschaften« als ›Verrat‹ gilt (Benda 1927). Diese Rede resultiert aus gedanklicher In-Form-Bringung des zerrissenen Diesseits, die Marx ›Idealisierung‹, ›Verhimmelung‹ oder ›Verjenseitigung‹ nennt. Zwar können die Verhältnisse »natürlich nur in I.n ausgedrückt werden«, zugleich aber gilt, dass sie durch Kritik allein nicht verändert werden können. Wenn die »Herrschaft der Verhältnisse […] in dem Bewusstsein der Individuen selbst als Herrschen von I.n erscheint«, so deshalb, weil diese Auffassung durch die herrschenden Klassen selbst »in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird« (Gr). Die marxistische Auseinandersetzung hat sich oft am Gegensatz von I und Materie abgearbeitet; insgesamt zielt sie jedoch darauf, die unter dem Namen ›I‹ vereinigten und verjenseitigten Momente von Erfahrung und Praxis freizulegen – um sie in der Perspektive erweiterter Handlungsfähigkeit wieder sich aneignen zu können. Indem philosophische Spekulation »wirkliche Verhältnisse« hinter eine »Gardine« rückt, wo »die I« deren Vermittlung »mit sich selbst vornimmt« (I.2; vgl. Haug 1993), konstituieren die I.n eine von der wirklichen Geschichte abgespaltene ›I.n-Geschichte‹. Diese marxsche Einsicht ist mit Blick auf Hegel gewonnen, trifft jedoch den Kern des gesamten Diskursbestandes der Philosophiegeschichte, insofern diese die das Sein ordnende Struktur mit I chiffriert, in die ein höchstes Wesen bzw. Gott projiziert ist.

I.n gelten in der philosophischen Tradition als ein primär ›Geistiges‹; ein Bruch mit dieser Überzeugung kündigt sich in der Aufklärung an, wenn Voltaire etwa behauptet, man habe zwar eine Menge ›I.n‹, kenne deshalb aber nicht »la nature des idées« (Dict. phil., »Idée«). Die Unbekümmertheit, mit der hier die Irrelevanz metaphysischer Garantien zu Protokoll gegeben wird, führt auf die alltagssprachlich-diesseitige Verwendung des Wortes im Sinne von ›Vorstellung‹ oder ›Einfall‹, der handlungsrelevant ist. Dass die Vorstellungen sich zu kaum hintergehbaren Vorurteilen verselbständigen können, spricht Ludwig Wittgenstein an: »Die I sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.« (Philosophische Untersuchungen, §103)

Begriff, Bewußtsein, bürgerliche Gesellschaft, Denken, Dialektik, Empirismus, Ewigkeit, Existenz, Freiheit, Frühschriften, Geist, Gesellschaftsvertrag, Gleichheit, Gott, Hegelianismus, Hegel-Kritik, Himmel/Hölle, Idealisierung, Idealismus/Materialismus, Idealtypus, Identitätslogik, Ideologietheorie, Immanenz, immateriell, Innenwelt/Außenwelt, Jenseits/Diesseits, Materie, Metaphysik, Moral, Nihilismus, Nominalismus, Philosophie, Rationalismus, Recht, Religion, Spekulation, Verhimmelung, Zivilgesellschaft

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