Alltagsforschung
A: abhath al-yaumi. – E: researching of everyday life. – F: recherche sur le quotidien. – R: issledowanie povsednevnosti. – S: investigación sobre la vida cotidiana. – C: richang shenghuo yanjiu
Frigga Haug
HKWM 1, 1994, Spalten 150-162
»Der Marxismus ist in seiner Gesamtheit vor allem eine kritische Erkenntnis des Alltagslebens.« So proklamiert Henri Lefebvre 1945 (Kritik) sein Vorhaben unter Berufung auf Marx. Dieser umreißt in der DI sein Forschungsprogramm unter wiederholtem Verweis auf die »Sprache des wirklichen Lebens«, den »wirklichen Lebensprozeß« der Menschen, die »wirklichen lebendigen Individuen«, die »leibhaftigen Menschen«. »Diese Betrachtungsweise ist nicht voraussetzungslos. Sie geht von den wirklichen Voraussetzungen aus, sie verläßt sie keinen Augenblick. Ihre Voraussetzungen sind die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen. Sobald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten.« (…) Emphatisch betont er: »Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.« (…)
Der Vorschlag orientiert Forschung zunächst darauf, genetisch-rekonstruktiv statt von oben herab objektivistisch vorzugehen. Im Werk von Marx und Engels finden sich immer wieder Studien über das Alltagsleben – über Wohnen, Ernährung, Holzdiebstahl, Alkohol etc.; in den sich als Marxismus oder ML herauskristallisierenden Offizialphilosophien blieb aus diesem Zusammenhang vor allem der Lehrsatz, daß das Sein das Bewußtsein bestimme. Dies wurde selbst aber nicht als Hinwendung zum Studium des wirklichen »Seins« und »Bewußtseins« im täglichen Leben aufgefaßt, sondern für empirische Forschung eher als Zensur wirksam, unter Verschluß zu halten, was etwas anderes widerspiegelte als die offiziell behauptete »sozialistische Lebensweise« – so etwa Alkoholismus, rebellische Jugendkulturen, Sehnsucht nach Jeans etc.
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