Individualität
A: al-fardanīya. – E: individuality. – F: individualité. – R: individualnost’. – S: individualidad. – C: gèxìng 个性
Morus Markard
HKWM 6/II, 2004, Spalten 933-941
I, gefasst als die Unverwechselbarkeit des Einzelnen, als seine ›Persönlichkeit‹, sein ›Selbst‹, scheint so eng mit dem Begriff »Individuum« verbunden, dass ein eigenständiges Stichwort »I« in Lexika als verzichtbar angesehen (z.B. EE, KWM) oder mit »Individuum« zu einem Doppelstichwort (z.B. HWPh) verbunden wird. Das Lexikon der Psychologie (2001) dagegen verweist Interessierte mit der lapidaren Angabe: »persönliche Eigenart, Eigenartigkeit, Einzigartigkeit«, auf »Identität«, ein Hauptstichwort, in dem die »innere Einheitlichkeit trotz äußerer Wandlungen« Ausgangsproblem ist (Keupp 2001).
Der Begriff »I« bezieht seine Spannung und seine Besonderheit gegenüber dem allgemeineren Begriff »Individuum« erst daraus, dass die Einzelnen in der individuellen Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft gleichzeitig Vergleichbarkeit / Austauschbarkeit / Konformität und Einzigartigkeit / Unverwechselbarkeit (re)präsentieren müssen. Insofern markieren Begriffe wie »Charaktermaske«, »(historische) Individualitätsformen« oder »Rolle« in dieser widersprüchlichen Anforderung den Gegenpol zu I, die sich biographisch in der Vergesellschaftung / Sozialisation / Individuation der Individuen herausbilden soll. Die Bedeutung von I reicht – je nach historischem und theoretischem Kontext – von mit der »Arbeitsteilung« ermöglichter »individueller Persönlichkeit«, damit der Abhebung des »individualisierten« Einzelnen von einer »einfachen Verkörperung des Gattungstyps seiner Rasse oder Gruppe« (Durkheim 1893) über eine gegenüber Lohnarbeit kritische Kategorie (Marx und Engels) bis dahin, dass I als »Pseudo-I« der Massenkultur selber Gegenstand der Kritik durch die Kritische Theorie wird. In der Oberflächensicht der Soziologie erscheint die widersprüchliche Anordnung zwischen Vergleichbarkeit und I nicht als Ausdruck der Dominanz von ökonomischer Verwertbarkeit und individueller Konkurrenz, sondern sie löst sich in einer ›paradoxen‹ Kompromissbildung zwischen Anpassung und Nonkonformismus auf: »Weil wir Nonkonformität bewundern und Gemeinschaft lieben, haben wir uns entschlossen, alle miteinander Nonkonformisten zu sein.« (Trilling 1955) Ulrich Beck (1986) sieht in postfordistischen Strukturveränderungen Spielräume für »Individualisierung«; andererseits üben jene einen Zwang zur I-Bildung aus, der sich in standardisierten I-Stilen zeigt (Seppmann 1998).
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