exemplarisches Lernen
A: ta‛allum namūdaǧī. – E: exemplary learning. – F: apprentissage exemplaire. – R: primernaja učëba. – S: apredizaje a través del ejemplo. – C: shili xuexi 实例学习
Frank Heidenreich
HKWM 3, 1997, Spalten 1099-1105
Seit den Kontroversen über Arbeiterbildung in der zweiten Hälfte der 20er Jahre (vgl. Heidenreich 1995) stellt Oskar Negts Konzeption des eL im deutschen Sprachraum bis heute den wichtigsten und fortgeschrittensten Beitrag zu einer Theorie der Arbeiterbildung dar (vgl. etwa Conert 1978). Im Kontext der »Neuen Linken« in Westdeutschland, ihrer demokratisch-emanzipatorischen Impulse und der Renaissance der Marxschen Theorie in den 60er Jahren verlangt Negt eine »Reorientierung« (1968) vor allem der in den Gewerkschaften vermittelten Arbeiterbildung.
Nach einer ersten Phase von den 1860er Jahren bis ins letzte Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, in der die sozialdemokratische Arbeiterbewegung kompensatorische Elementarbildung für Arbeiter mit Klassenkampferziehung verbindet, ändert sich Arbeiterbildung mit den erkämpften tarifvertraglichen und arbeitsrechtlichen Regulierungen des Klassenverhältnisses von Lohnarbeit und Kapital. In der Weimarer Republik – besonders mit der Schaffung einer neuen Kategorie von Funktionären durch das Betriebsrätegesetz von 1920 – praktizieren die Gewerkschaften Bildung überwiegend als »spezialisierte Funktionärsschulung« (…) im organisationspolitschen Interesse. Als solche ist sie Mittel zum Zweck der Verbandsintegration einschließlich vielfältiger Aus- und Abgrenzungen nach links (Kommunisten) und rechts (Unorganisierte und konkurrierende Richtungsgewerkschaften). Die gewerkschaftliche Vorstellung funktionaler Zweckbildung artikuliert sich auf der Grundlage der Funktionsteilung von Partei(en) und Gewerkschaften bisweilen aggressiv und polemisch, so in dem Credo, die Gewerkschaften hätten den Betriebsräten nicht »den Unterschied zwischen bürgerlicher und marxistischer Buchführung klarzumachen« (SGZ 1927).
Die Auflösung des (zumindest unterstellten) Zusammenhangs von Arbeiterbewegung und Marxismus als ihrer politischen Theorie als Folge des Faschismus, des Kalten Kriegs und fordistischer Klassenkompromisse der fünfziger Jahre markiert das Ende dieses – nach Negt – zweiten Entwicklungsstadiums der Arbeiterbildung. In dem Maße, wie die Gewerkschaften auf eine Theorie der Arbeiterbewegung verzichten, tendiert ihre Bildungsarbeit dazu, »die Bildung des Bewusstseins auf die Aneignung organisationspraktischer Informationen zu reduzieren« (1968). Der Seminarunterricht erfolgt auf der Grundlage funktionalistischer Modelle der Wirtschaftswissenschaften, des Arbeitsrechts und der politischen Wissenschaften (zu Recht/Politik siehe auch …). Gewerkschaften und bürgerliche Wissenschaften koexistieren auf unkritische Weise. Die Wissensvermittlung ist bestimmt durch die bestehenden Praxisformen gewerkschaftlicher Interessenvertretung und funktional beschränkt auf die Auslegung von Tarifverträgen und arbeitsrechtlichen Normen oder die Anwendung von Methoden der Arbeitsbewertung (…). Bildungsziel ist der im Sinne eines »Anwalts erworbener Rechte« (…) tätige, handlungsfähige Gewerkschaftsfunktionär.
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