Karikatur
A: kārīkater. – E: caricature. – F: caricature. – R: karikatura. – S: caricatura. – C: manhua 漫画
Inez Hedges, Peter Jehle
HKWM 7/I, 2008, Spalten 388-397
Als eine aktualitätsbezogene Kunstform, die den Bezug aufs transhistorisch-ideale Schöne vermissen lässt, galt K stets als defizitär. Sie passte nicht ins klassizistische Schema von Nachahmung, Harmonie und Totalität. Sie bildet nicht idealisierend ab, sondern verfremdet; sie wahrt nicht die Proportionen, sondern ›übertreibt‹; sie repräsentiert kein Ganzes, sondern rückt einen einzigen Gesichtspunkt, ein in einer bestimmten Hinsicht Interessantes oder Charakteristisches in grelle Beleuchtung. Die Blitzartigkeit, mit der sie ihre Wirkung entfaltet, macht sie zur gefürchteten Waffe im Klassenkampf oder im Bewegungskrieg um kulturelle Hegemonie. Sie bietet »the most concentrated form of criticism« (Ashbee 1928) und wird dort zur »einzig möglichen Kritik« (Gramsci, Gef), wo eine Philosophie nichts weiter tut, als den theoretischen Reim auf die herrschenden Verhältnisse zu liefern. Wie alle Kunst setzt sie einen bestimmten Stand der Produktivkräfte voraus: Zwar finden sich karikierende Zeichnungen und Skulpturen bereits in der Antike – überall dort, »wo ein politisches Leben sich regt« (Fuchs 1921) –, doch einen Aufschwung erfährt sie erst mit dem Buchdruck und, mehr noch, mit der Lithographie und der periodischen Presse im 19. Jh., weil erst diese der Aktualitätsbezogenheit die materielle Grundlage verschafft.
»Was darf die Satire? Alles«, meinte Kurt Tucholsky (1919/1975) und zielte damit auf die Stärkung zivilgesellschaftlicher Mechanismen der Meinungsbildung. Die K ist eine aufnahmefähige, mithin auch fragwürdige Form, geradezu gewissenlos von rechts und links und nicht zuletzt von der Werbebranche instrumentalisierbar. Rassismus und Sexismus sind ihr willkommene Mittel, wenn es darum geht, einen Gegner moralisch zu zerstören. Der 2005 um die Darstellungen des Propheten Mohammed entbrannte ›K-Streit‹ – konterkariert durch einen von der iranischen Tageszeitung Hamshahri veranstalteten Wettbewerb mit K.en über den Holocaust – rückte wieder ins Bewusstsein, dass der Punkt, an dem der Spaß aufhört, jeweils durch die geschichtliche Konstellation selbst bestimmt ist. Der Grenzverlauf zwischen einem Lachen, das befreit, und einem, das vernichtet, steht nicht fest; seine Fixierung durch ästhetisch-moralische Werte ist stets nur Momentaufnahme in einem unabschließbaren Prozess.
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