Katastrophe
A: kāriṯa. – E: catastrophe, desaster. – F: catastrophe, désastre. – R: katastrofa. – S: catástrofe. – C: zaihuo 灾祸
Juha Koivisto, Thomas Weber
HKWM 7/I, 2008, Spalten 436-453
Nichts weniger als das »Lebenselement des Kapitalismus« hat Rosa Luxemburg in ihr gesehen. Doch der Sensationalismus und Alarmismus der je neuen K, die sich eben ereignet hat oder gerade beschworen wird, verdecken die andauernd vorgehenden und die jetzt schon vorgängigen, künftigen K.n. Gerade der Katastrophismus trägt dazu bei, »dass es so weitergeht« – worin Walter Benjamin die K gesehen hat. Dies galt auch für seine marxistische Spielart, solange er wieder und wieder »die Unausweichlichkeit der ›Endkrise‹« annahm und daraus »die Unausweichlichkeit der Revolution« ableitete (KWM 4). Je größer die Ohnmacht, desto größer die Hoffnung auf die K als glückliche Wendung des Schicksals (fortunae vicissitudo, fortunae commutatio).
Das Wort καταστροφή bedeutet (nach Gemoll) Umkehr, Umsturz (der bestehenden Ordnung); auch Ausweg, Ausgang, Ende, Tod. In manchen Kontexten Unterwerfung, Unterjochung. Dominant wurde seine neutestamentarische Bedeutung: Zerstörung, Verderben. In der von Aristoteles ausgehenden Poetologie bezeichnet es die mit der Katastase oder Peripetie – »plötzliches Umschlagen« (Wb. d. Lit.Wiss, Leipzig 1986) – eingeleitete Wendung des Handlungsverlaufs, der in der Tragödie mit Notwendigkeit zum Untergang des Helden führt. Der beim Zuschauer angezielte Effekt heißt Katharsis.
Eine Chronik wäre zu erstellen von jenen großen K.n., die zum Umdenken nötigten, wie der Vesuvausbruch 79 oder das Erdbeben von Lissabon 1755, das hinreichte, um »Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren« (Adorno, GS 6), und Rousseau dazu brachte, die Frage nach der K entscheidend zu säkularisieren und die (klassen-)gesellschaftlich bedingten Auswirkungen von Natur-K zu thematisieren (Brief vom 18. Aug. 1756). Der Versuch einer solchen Chronik würde ergeben, dass jedes eingetragene Datum den Eintrag eines weiteren verlangte und am Ende eine fast lückenlose Serie von K.n entstünde. Dabei würde sich Theodor Adornos These bestätigen, dass die »K.n der ersten Natur« »unbeträchtlich« und »überschaubar« sind verglichen mit denen »der zweiten, gesellschaftlichen«, allein schon, wenn man an die mit dem Namen Auschwitz verbundene denkt, »die der menschlichen Imagination sich entzieht « (ND). Die aber doch wie die andern auch zu begreifen wäre, um nicht »die wichtigsten Wendepunkte der Geschichte in sinnlose K.n verwandeln«, wie Georg Lukacs dereinst befürchtet hatte (GuK). Aber anders als Lukács, der die Kategorie der K der »Bewusstseinsform der Unmittelbarkeit« zuschlägt und aus dem »Begriffssystem der Vermittlungen« ausschließt – das »Wesen der Geschichte« kennt keine K – versuchen Autoren wie Étienne Balibar, »die Auswirkungen der Anomalie und der K, der Ausnahme und des Unvorhersehbaren ins Zentrum der politisch-anthropologischen Reflexion zu stellen, ohne dabei auf eine rationale Analyse der Formen zu verzichten, in denen sich die Geschichte vollzieht« (…).
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