Kalvinismus, Puritanismus

A: kālvīniyah, taṭahhuriya. – E: Calvinism, puritanism. – F: calvinisme, puritanisme. – R: Kal’vinizm, puritanizm. – S: calvinismo, puritanismo. – C: jiaerwen zhuyi, jiaerwen jiao, qingjiao zhuyi 加尔文主义, 加尔文教, 清教主义

Jan Rehmann

HKWM 7/I, 2008, Spalten 33-48

K bezeichnet die zweite Phase der protestantischen Reformation, die von dem französischen Theologen und Juristen Jean Caulvin (dt. Johannes Calvin oder Kalvin) im Genfer Exil zunächst 1536-1538 und nach seiner Rückkehr aus der Verbannung wieder ab 1541 eingeleitet wurde. Ihr war ab 1524, ausgehend von Zürich, die Reformation Zwinglis vorausgegangen, die zusammen mit dem K manchmal unter die Bezeichnung »reformierte Kirche« subsumiert wird. Systematisiert und vielfältig modifiziert von Kalvins Nachfolger Théodore de Bèze, dem holländischen Theologen Franciscus Gomarus, dem Gründer der Presbyterianischen Kirche in Schottland, John Knox, und zahlreichen anderen, verbreitete sich die neue Konfession in ganz Europa und gelangte über die Emigration der niederländischen, englischen und schottischen Puritaner nach Nordamerika, wo sie unter verschiedenen Namen zur vorherrschenden Religion in den weißen bürgerlichen Klassen wurde.

Die Orthodoxie des K wurde v.a. im »arminianischen Streit« der Niederlande, d.h. in den theologischen Auseinandersetzungen mit der innerkirchlichen Opposition der Arminianer (Anhänger von Jakob Arminius) ausgearbeitet, die unter humanistischen Einflüssen die Prädestinationslehre in Frage stellten. Der Streit wurde politisch durch den im Unabhängigkeitskampf gegen Spanien siegreichen Generalstatthalter Moritz von Oranien entschieden und auf der Dordrechter Synode (1618-19) in fünf Punkten systematisiert, die gewöhnlich nach der englischen Abkürzung TULIP zusammengefasst werden: total depravity, d.h. die völlige Verderbtheit und Sündhaftigkeit des Menschen; unconditional election, Gottes bedingungslose Erwählung des Menschen zum Heil oder zur Verdammnis unabhängig von irgendwelchen menschlichen Verdiensten oder Tugenden (Prädestinationslehre); limited atonement, die Auffassung, dass Jesus Christus durch seinen Tod nicht alle Menschen, sondern nur die von Gott auserwählten errettet hat; irresistable grace, der Mensch kann die gewährte Gnade nicht ausschlagen; perseverance of the Saints, die einmal Geretteten können die gewährte Gnade nicht mehr verlieren.

Im Gegensatz zum Konfessionsbegriff des K entstand der Begriff des P im 16. und 17. Jh. als negative Fremdbezeichnung, die zwischen religiösen und politischen Bedeutungen oszillierte. Politisch bezeichnete er die Opposition gegen das absolutistische Königtum der Stuarts und kulminierte schließlich in der von Oliver Cromwell geführten englischen Revolution (1642-1660), religiös bezog er sich – über seine engere Bedeutung der kalvinistischen Konfessionen der Presbyterianer und Kongregationalisten (Independenten) hinaus – auf alle Strömungen, die die anglikanische Staatskirche von innen oder von außen von ihren »katholischen« Tendenzen »reinigen« wollten (vgl. RGG, Bd. 5). Seine Wortbedeutung einer Orientierung auf »Reinheit« deckt sich überraschend mit der der »Ketzer«, die auf die süd-französischen »Cathari«, die »Reinen« des 12. u. 13. Jh. zurückgeht. Dass deren Versuch, sich vom »unheiligen« Kirchenapparat zu »reinigen«, im Blut erstickt wurde, während die Puritaner durch ihr Bündnis mit relevanten Fraktionen des aufsteigenden Bürgertums überleben und sich erfolgreich durchsetzen konnten, markiert einen wichtigen Unterschied zwischen Mittelalter und früher Moderne. Freilich erfuhren viele »Dissenters« und »Nonkonformisten«, die nach der Restauration von 1660 auf der Suche nach politischer und religiöser Freiheit nach Neu-England flohen, die Unterdrückung durch eine neue »puritanische Theokratie«, deren Intoleranz sich z.B. 1692/93 in den Hexenprozessen von Salem (Massachusetts) zeigte.

Da K und P v.a. in den Niederlanden, in England und den USA dominant wurden, wo sich ab dem 17. Jh. die kapitalistische Moderne am deutlichsten manifestierte, konzentrieren sich die religionssoziologischen Debatten v.a. auf ihre Bedeutung für Aufstieg und Hegemoniegewinnung des Bürgertums. Der modern-bürgerliche Charakter des K, für den sich schon Engels interessierte, wird außerhalb des Marxismus v.a. von Max Weber in der Protestantischen Ethik ausgearbeitet, freilich in ideengeschichtlicher Vereinseitigung, über die er sich aber selbst im Klaren ist (RS I). Somit ist der K zum Beispielsfall für die Debatten zwischen Marxisten und Weberianern um die Bestimmung der »Wechselwirkungen« (Engels) zwischen Basis und Überbau, sozialökonomischer Klassenformation und der Wirksamkeit von Ideen geworden.

Angst/Furcht, Antizipation, Aufklärung, Bauernkrieg, Bestimmung/Determination, Bourgeoisie, bürgerliche Gesellschaft, bürgerliche Revolution, Denkform, Dissident(inn)en, Dogmatismus, englische Revolution, Enthusiasmus, Entzauberung, Erlösung, Ethik, ethisch-politisch, Fatalismus, Fetischcharakter der Ware, Fordismus, Gemeinde (christliche), Gewissen, Glauben, Gott, Hexenverfolgung, Himmel/Hölle, Idealtypus, Individualismus, Jenseits/Diesseits, Kapitalismus, Kapitalismusentstehung, Katholizismus, Ketzer, Lebensführung, Messianismus, Modernisierung, Ökonomismus, Optimismus/Pessimismus, passive Revolution, Reformation, Religion, Religionskritik, religiöse Revolutionsbewegungen, strukturelle Kausalität, Überdeterminierung, weberianischer Marxismus, Wechselwirkung

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k/kalvinismus_puritanismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/19 22:07 von christian     Nach oben
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