lesende Arbeiter
A: 'āmil al-qāri'. – E: reading workers. - F: ouvriers qui lisent. – R: čitajuščie rabočie. - S: obreros que leen. – C: gongrenyueduzhe 工人阅读者
Peter Jehle
HKWM 8/I, 2012, Spalten 1000-1019
»Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?« (GW 9) Die Fragen, die Brecht seinen »lA« stellen lässt, sind die des historischen Materialisten, der es nach Benjamin als seine Aufgabe betrachtet, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten« (GS I.2). Die Bücher, die nur die Namen der Könige enthalten, gehen in ihrer Funktion, den Herrschenden ein Denkmal zu setzen, nicht auf. Immer kommt es darauf an, im Gesagten das Nicht-Gesagte zu erschließen und das zum Schweigen Gebrachte zum Sprechen zu bringen. Solches Lesen ist Arbeit und setzt kontinuierliche Übung, letztlich eine Lebensweise voraus. Wer liest, muss das Sitzen lernen – wie Me-tis ungeduldiger Schüler Tu, der kämpfen lernen will und erfährt, dass er zunächst »gut sitzen« lernen muss (Brecht, GW 12). Lesen und Kämpfen sind keine Gegensätze: »Lesen, das ist Klassenkampf« (Die Mutter, GA 3), denn »wenn wir lesen und schreiben können, dann können wir unsere Broschüren selber verfassen und unsere Bücher lesen. Dann können wir den Klassenkampf führen« (…). Das von der Unmittelbarkeit der Lebensverhältnisse sich distanzierende Lesen ist fürs kritische Begreifen derselben unentbehrlich. Es hilft dem Denken und dem »Pessimismus des Verstandes« auf die Sprünge (Gramsci, Gef, H. 9, §60).
»Alle zehn Jahre ein großer Mann. / Wer bezahlte die Spesen?« (Brecht, GW 9) Es ist eine Kunst, die richtigen Fragen zu stellen und im Material der traditionellen Geschichtsbetrachtung die Spuren der eigenen Geschichte und Wirksamkeit zu entdecken. Das gilt auch für die Werke der bildenden Kunst, die von den Arbeitern in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands ›gelesen‹ werden. Sie wissen, dass »die Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben werden«, ehe sie sich nicht selbst »Einblick in die Verhältnisse verschafft« haben – indem sie sich eine »Schulung […] erobern«, die »von Anfang an Auflehnung« ist (ÄdW I). Sie, die sich zu Bibliotheken Zugang verschaffen müssen, als wollten sie in den Tresor einer Bank eindringen, wissen, »dass es eine intellektuelle Arbeit gab, die der manuellen verwandt war, dass beide Tätigkeiten aufeinander übergriffen, einander stützten und voranbrachten« (II). Die Befreiung aus Unterdrückung hat die ›von unten‹ angeeignete Kunst auf ihrer Seite. Die Unterdrückten finden in ihr das Material, in dem die eigenen Erfahrungen les- und aussprechbar werden.
»Die ungeheure Kluft zwischen uns, die wir an die Stempeluhr gebunden waren, und denen, die sich in Unabhängigkeit der Literatur, der Kunst zuwenden konnten« (II) – mit ihr kommt das System der von Klassenspaltung und Herrschaft bestimmten Arbeitsteilung ins Bild, das die Arbeiter dazu verdammt, nur die ›Hand‹ und kein ›Kopf‹ zu sein. Vor jeder empirischen Frage nach den real existierenden lA und deren faktischen Lesestoffen verbindet sich mit ihnen eine kulturrevolutionäre Perspektive. Sie findet im Bild der Köchin, die nach Lenin den Staat regieren soll, ihren Ausdruck.
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